In dem Beitrag werden zwei ältere, bislang unentdeckte Mythenversionen rekonstruiert, die die “barbarischen” Amazonen als Einwanderinnen, Ahnfrauen und Gründungsheroinen in positiver Konnotation vorführen. Im Zentrum steht zum einen die am Ende des 6. Jahrhundert v. Chr. beliebte Erzählung von Theseus und Antiope, die mit alten Kultmalen in Athen in Verbindung gebracht werden kann. Zum anderen sind Ergebnisse neuerer Grabungen im Artemisheiligtum von Ephesos zu nennen, wo Befunde früharchaischer Zeit (7. Jahrhundert v. Chr.) ebenfalls Anlass für die Entstehung einer älteren Gründungslegende geliefert haben könnten.
Ihre Funktion als identitätsstiftende Migrationsmythen wurde im 5. Jahrhundert v. Chr. unter Einfluss der Perserkriege und der daraus resultierenden hegemonialen Interessen Athens aufgegeben und von der Griechen-Barbaren-Dualität überlagert. Dies gelang deshalb so gut, weil die alten Raumbezüge nun nicht mehr präsent waren.
View lessIn seiner fünften Isthmischen Ode verarbeitet der griechische Chorlyriker Pindar einen Mythos, in dem die Motive Migration und Genealogie eine prominente Rolle spielen. Obgleich sich der Mythos der Aiakiden für die Konstruktion von Identitäten eigentlich nicht eignet, verwendet das Siegeslied die heroischen Leistungen der Aiakossöhne, um den Ruhm sowohl des Adressaten als auch der Einwohner der Insel Ägina zu mehren. Da die Aiakiden im Mythos ihre Heimat Ägina gezwungenermaßen verlassen, war die Inselbevölkerung nicht in der Lage, eine direkte Blutsverwandtschaft mit ihnen zu postulieren. Daher ersinnt Pindar eine Strategie, um Migration und Genealogie neu zu akzentuieren. Indem er die Muster von Wanderung und Genealogie betont und gleichzeitig die engen familiären Bindungen unter den Aiakiden auf die Familie des Adressaten projiziert, transformiert Pindar die Konzepte von Migration und Verwandtschaft in zeitlose Narrative. Auf diese Weise wird die “reale” Genealogie gewissermaßen in eine Typologie verwandelt, in der sowohl der Adressat und seine Familie als auch die Inselbevölkerung den mythischen Helden entsprechen.
View lessErzählungen von Herkunft und Wanderungen der Völker gehörten immer schon zu den zentralen Motiven in Darstellungen der Vergangenheit – das gilt für mythische Überlieferungen ebenso wie für moderne historiographische Abhandlungen. Vor dem Hintergrund des modernen Nationalismus und Kolonialismus hat die Thematik schließlich im 19. und 20. Jahrhundert zusätzliche Brisanz erhalten. Entsprechend avancierten Massenmigrationen oder so genannte Völkerwanderungen zu den zentralen Feldern altertumswissenschaftlicher Forschung. Dabei zielten diese Studien vornehmlich auf eine kritische Überprüfung der antiken Überlieferungen. Unabhängig von den behandelten historischen Kontexten lassen sich hingegen auch in der wissenschaftlichen Literatur bestimmte wiederkehrende Muster erkennen, wie Herkunft und Migrationen verschiedener Völker jeweils dargestellt und erzählt worden sind. Am Beispiel der Wissenschaften vom Alten Orient (d.h. Assyriologie und Vorderasiatische Archäologie) aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert soll im Folgenden sowohl die Ähnlichkeit entsprechender Wanderungsnarrative als auch deren fortwährende Verhaftung an den alten Überlieferungen und Quellen aufgezeigt werden.
View lessDie Thora enthält zwei wegweisende Wanderungssagen aus der Frühgeschichte Israels. Beide Überlieferungen werden im kleinen geschichtlichen Credo Dtn 26,5–9 (Gerhard von Rad) aufgenommen, das die Israeliten und Judäer am Erntedankfest bei der Darbringung der Früchte des Feldes vor ihrem Gott zu sprechen hatten.
Die heute vorliegende Sammlung von Wanderungssagen der Erzväter aus dem 6.–5. Jahrhundert v. Chr. im Buch Genesis ist im heutigen Bestand nicht als historischer Reflex anzusehen, sondern vielmehr als Landbesitz- und Landanspruchserzählung einer späteren Epoche zu verstehen. Dennoch könnten in den Erzvätererzählungen auch Traditionen aus der Zeit der Ansiedlung von Proto-Israeliten/Judäern bewahrt worden sein. So wird der im 12./11. Jahrhundert v. Chr. vorherrschende kulturelle Einfluss aus dem Norden, die Nähe zu den ostjordanischen Königtümern (Jakob-Esau-Erzählkreis; Abraham-Lot-Erzählkreis), die Begründung der Zusammengehörigkeit der israelitischen Stämme (Königszeit) und die Abgrenzung von den übermächtigen Seevölkern und Phöniziern sowie den in der Küstenebene und der Schefela lebenden “Kanaanäern” zutreffend hervorgehoben.
View lessDie so genannte Völkertafel von Genesis 10 ist ein fiktionaler Text, der die Kategorien Abstammung und Verwandtschaft als Darstellungsmittel verwendet, um in narrativer Weise eine räumliche Ordnung der vorfindlichen Welt vorzunehmen. Die Völker kommen in Genesis 10 als autonome Größen eigenen Rechts in den Blick und werden unter drei Ausgangsgrößen (entsprechend den drei Großmachtsphären) systematisiert. Die Darstellung der Völkerschaften als verwandt macht deutlich, dass alle Menschen trotz ihrer kulturellen Eigenheiten zueinander in Beziehung stehen. In der Erzähllinie des Buches Genesis ist die Völkertafel eine Ätiologie für die Ausbreitung der Menschheit im Raum und eine Erfüllung des Schöpfungssegens: Alle existierenden Völker gehören zu der von Gott geschaffenen Menschheit. Die Völkertafel hat außerdem die Funktion, die bekannten Völker geographisch zu verorten und sie über genealogische Beziehungen auch zueinander ins Verhältnis zu setzen. Genesis 10 zeigt die Weltdeutung und die politische Sichtweise ihrer Verfasser zu deren Zeit.
View lessGenealogien sind in Kulturen des antiken Mittelmeerraums und der Arabischen Halbinsel weit verbreitet. Sie dienen dazu, durch Bezüge zwischen einzelnen Menschen und Gruppen sowie zwischen Mensch und Gottheiten Kontinuität und Dauer herzustellen. Unter diachron-historisierender Rückbindung in vertikalen Geschlechterfolgen werden soziale Wirklichkeiten konstruiert, die Ordnung, Stabilität und Beständigkeit suggerieren. Brüche und Diskontinuitäten werden harmonisiert, Fortdauer und Verstetigung garantiert und so religiöse, politische und ethnische Ansprüche und Vorrechte legitimiert. Viele dieser Funktionen teilen die Genealogien mit Mythen von der Herkunft und den Wanderungen einer fiktiven oder realen Person, eines Geschlechts oder einer Ethnie. Die interdisziplinäre Betrachtung von Genealogie und Migrationsmythen stellt ein Desiderat dar, dem der vorliegende Band mit Beiträgen aus Religionswissenschaft und Theologie, Biblischer und Klassischer Archäologie, Alter Geschichte, Gräzistik und Latinistik, Ägyptologie und Arabistik anhand exemplarischer Einzelstudien nachkommt.
View lessObwohl der Koran dazu aufruft, das pagane Paradigma der Blutsverwandtschaft abzulösen, sind mittelalterliche arabische Texte weiterhin von einem tribalen Idiom geprägt. Die zentralen Themen dieser genealogischen Erzählungen, die auch öfters verknüpft erscheinen, sind die folgenden: 1. das arabische Stammessystem; 2. dessen Beziehung zu biblischen Genealogien und die Position des Propheten in diesem genealogischen Netz; 3. die sogenannten ‚mekkanischen Legenden‘, die den Aufstieg der Quraysh als hegemoniale Gruppe erzählen; 4. Migrationsmythen. Dieser Artikel untersucht eine aufschlussreiche genealogische Erzählung, in der alle diese Themen verbunden sind, und die ein dichtes Netz von Assoziationen und Beziehungen zwischen Gruppen und Einzelpersonen webt. Ziel des Textes ist es, den Status der arabischen ethnischen Identität und den Propheten Mohammed aufzuwerten und Arabien als einen Raum der göttlichen Wirkens darzustellen. Die genealogische Legende erzählt, wie der babylonische König Nebukadnezar den Ma'add, Eponym der Nordaraber und Ahne des Propheten, vertrieb, und wie dieser schließlich nach Mekka auswanderte.
View lessDer Artikel verfolgt die “Migration” der Gemeinde Muhammads aus ihrem tribal orientierten arabischen Milieu in die Textwelt der biblischen Tradition. In Auseinandersetzung mit der paganen Gesellschaftsordnung und ihrem Wertekanon ersetzte die koranische Gemeinde bereits während der mekkanischen Wirkungszeit des Propheten die vorherrschende Stammesloyalität durch ein spirituelles Treueverhältnis mit Gott. Biblische Figuren wurden zu Vorbildern, allen voran Abraham, der sich von seinem – dem Götzendienst anhängenden – Clan distanziert hatte. Nach ihrer Niederlassung in Medina fand sich die Gemeinde mit einem neuen, biblischen Clankonzept konfrontiert: demjenigen der Nachkommen Abrahams, die den Anspruch auf einen privilegierten Status aufgrund der “Verdienste der Väter” erhoben. In einem weiteren Verhandlungsprozess wird daher ein neues Bild von Abraham geprägt, den die Gemeinde als ausschließlich spirituelles Rollenmodell versteht, losgelöst von seinen genealogischen Nachkommen, vielmehr integriert in eine Gemeinschaft der Propheten, die in dieser Phase an die Stelle der physischen Vorfahren der Gemeinde getreten waren und als die wirklichen Ahnen der Gläubigen Anerkennung genossen.
View lessIm Verlauf der altägyptischen Geschichte war Genealogie ein wichtiges Mittel, um die Vergangenheit zu strukturieren und zu bewerten. Königliche Genealogien dienten als Instrument der Zeitmessung und ermöglichten es, Könige als Nachfahren der Götter darzustellen. Durch ihren selektiven und normativen Charakter waren königliche Genealogien dazu geeignet, die kollektive Erinnerung und das historische Wissen zu konstruieren. Dies fand vor allem im Tempelbereich und bei öffentlichen Feiern der Ramessiden-Zeit statt. Vergleichbare Herrscherfolgen wurden in den privaten Grabbereich übernommen, um das Fortleben des Verstorbenen im Jenseits sicherzustellen. Längere private Genealogien sind allerdings erst seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. belegt. Königliche wie private Genealogien dienten dem Zweck der Legitimation.
View lessPhönizische Städtegründungen im westlichen Mittelmeer kennen normalerweise keine Gründungssagen – die große Ausnahme ist Karthago, und für die punische Metropole sind gleich drei Varianten des Mythos überliefert. Am bekanntesten ist die Geschichte um die tyrische Prinzessin Dido (Elissa), die, von ihrem tyrannischen Bruder Pygmalion verfolgt, an die Küste Nordafrikas flieht. Die Legende ist ein prototypischer Wanderungsmythos, der das klassische Repertoire an Motiven – Seefahrt, Fremdheit, Interkulturalität – in sich einschließt. Der Aufsatz untersucht, welche Rolle Wissenstransfer, Raumbezüge und Genealogien in dem Mythos spielen, dessen Ursprünge sich im Dunkel der Geschichte verlieren.
View lessDie imaginäre Landkarte des antiken Italien ist durch mythische Wanderungen definiert, die vor allem aus dem Umkreis des troianischen Krieges stammen. Dabei sind die Gegensätze von Griechen und Troianern aufgehoben und zu einer neuen Synthese geführt. Das lässt sich aufgrund der Überlieferungslage besonders gut an Rom studieren (mit den founding fathers Euander, Aeneas und Romulus), gilt aber auch für viele andere Städte in Italien. In einer Reihe von Fällen lassen sich sogar noch die einschlägigen lokalen Traditionen identifizieren. Vorstellungen von Autochthonie und kultureller Unabhängigkeit von Griechenland sind demgegenüber kaum anzutreffen. Diese grundlegenden Tendenzen werden anhand ausgewählter einschlägiger Texte (und komplementärer Bildbeispiele) illustriert und ausgewertet.
View lessGenealogien sind in Kulturen des antiken Mittelmeerraums und der Arabischen Halbinsel weit verbreitet. Sie dienen dazu, durch Bezüge zwischen einzelnen Menschen und Gruppen sowie zwischen Mensch und Gottheiten Kontinuität und Dauer herzustellen. Unter diachron-historisierender Rückbindung in vertikalen Geschlechterfolgen werden soziale Wirklichkeiten konstruiert, die Ordnung, Stabilität und Beständigkeit suggerieren. Brüche und Diskontinuitäten werden harmonisiert, Fortdauer und Verstetigung garantiert und so religiöse, politische und ethnische Ansprüche und Vorrechte legitimiert. Diese Funktion teilen die Genealogien mit Mythen von der Herkunft und den Wanderungen einer fiktiven oder realen Person, eines Geschlechts oder einer Ethnie. Die interdisziplinäre Betrachtung von Genealogie und Migrationsmythen stellt ein Desiderat dar, dem der vorliegende Band mit Beiträgen aus Religionswissenschaft und Theologie, Biblischer und Klassischer Archäologie, Alter Geschichte, Gräzistik und Latinistik, Ägyptologie und Arabistik anhand exemplarischer Einzelstudien nachkommt.
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