Die Dissertation stellt den Begriff "Lettrismus", der von Isidore Isou erfunden und von der Literaturwissenschaft adaptiert wurde, auf eine breite komparatistische Grundlage. Auf diesem Fundament wird eine Reformulierung des Begriffs geleistet: "Lettrismus" manifestiert sich in der Buchstabenkunst, die jenseits der Wortsemantik und jenseits des gesprochenen Sprache agiert; "Lettrismus" wird definiert als eine Produktionsstrategie, die in ihrem Kern mystische, ludische und dekompositorische Charakterzüge vereint. Dekomposition, Ludismus, Mystik sind die dem Lettrismus wesenhaft vertrauten Gebiete, die nicht allein literarische sind; die ihm nahestehenden Denkfiguren, denen literarische Stilfiguren korrespondieren, sind Kombinatorik, Atomistik, Analytik und Enzyklopädik. Sie können als alternative Figuren des Literarischen gelten, die ein Schreiben jenseits wortsemantischer Ordnungen zulassen, ohne daß das Schreiben aufgegeben werden müßte. Diese insgesamt sieben (literarischen) Felder markieren den Bereich, in dem Lettrismus in Erscheinung tritt. Diese struktural angelegte Definition wird in der Arbeit anhand von Beispielen vor allem aus dem 20. Jh. historisch verankert; die literaturwissenschaftlichen Textanalysen widmen sich dem Lettrismus des italienischen Futurismus, Apollinaires Surrealismus, der Merzkunst Schwitters', dem Lettrisme Isous und lettristischen Tendenzen des Ouvroir de Littérature Potentielle (Oulipo). Diese Kapitel setzen bei den Spezifika und Besonderheiten des Lettrismus an, der in den verschiedenen Strömungen auszumachen ist. Wird bei den Untersuchungen des italienischen Futurismus die destruktive Seite des Lettrismus betont, zeigen sich in der Merzkunst überwiegend ludische Züge; in den Ausführungen über Apollinaires Surrealismus rückt die für den Lettrismus wichtige Text-Bild-Debatte in den Vordergrund. Der "Lettrisme" um Isidore Isou versucht, avantgardistische Techniken zu reanimieren und auszuweiten; Oulipo hingegen beruft sich u.a. auf weit zurückreichende Techniken der Literaturproduktion; Lettrisme- und Oulipo- Kapitel unternehmen eine Annäherung auch über die Programmatik der jeweiligen Gruppe und untersuchen ausgewählte lettristische Beispiele. In allen Einzelkapiteln werden auch die literarischen Traditionen offengelegt, aus denen sich die einzelnen lettristischen Manifestationen herleiten und die teilweise bis in die Antike zurückzuverfolgen sind. Es wird aufgezeigt, wie sich die drei Haupttendenzen des Lettrismus den einzelnen lettristischen Werken verzwirnen. Diese literaturvergleichende Arbeit wird flankiert durch Künstevergleiche: Lettrismus in Typographie, Bildender Kunst, Architektur und Musik, denn Lettrismus ist nicht auf den Bereich der Poesie beschränkt, sondern auf den Bereich der Buchstaben. Die Einordnung in das Spannungsfeld von Gramma- und Phonozentrik, von Wortsemantik und jenseits der Wortsemantik operierender Techniken wird dabei ebenso ins Blickfeld gerückt wie die Frage, wie über einzelne Buchstaben überhaupt literaturwissenschaftlich zu reden sei. Duch ein intensives Befragen des breiten kunst- und kulturgeschichtliches Phänomens der Buchstabenkunst mit komparatistischen Mitteln wird deutlich, daß sich das enge Verständnis des Lettrismus als "Nonsens-Poesie" oder rein avantgardistische Produktionsstrategie nicht aufrecht erhalten läßt.
In a broad comparative structure, this dissertation defines the term "Lettrismus" ("lettrism"), invented by Isidore Isou and adapted by literary studies. "Lettrismus" manifests itself in the art of letters which operates beyond spoken language. "Lettrismus" is described as a strategy of production, combining mystic, ludic and decompositional characteristics in its centre. Decomposition, ludism, and mysticism are the essential aspects of lettrism, which are not especially literary ones; combinatorial, atomistic, analytic and encyclopaedic figures adjoin them. Writing in this mode, allows writing beyond words and beyond meaning of the words. This structural definition is historically embedded in the avant-garde literature of the 20th century. Italian Futurism, the Surrealism of Apollinaire, the Dada- and "Merz"-Art of Kurt Schwitters, the "Lettrisme" of Isidore Isou and the Ouvroir de Littérature Potentielle (Oulipo) are the major objects of this investigation. This thesis also shows the literary traditions of Lettrism which lead back to ancient concepts of writing and production of texts. In addition to this, my thesis includes a discussion of the meaning of three-dimensional letters in painting, typography, and architecture, but also the appearance of letters in music. Thus lettrism is not limited to poetry, but to letters. The tension between the traditions of gramma- and phonocentrism, between spoken and written language, is dealt with as two of the core aspects. Equally I work on the question of how to investigate letters as letters in comparative literary theory. As a result one must define lettrism as a broad phenomenon in the history of art and culture. So far, lettrism has been regarded as a minor movement in poetry, a kind of nonsense literature, developed by a small group of "avantgardists" at the beginning of the 20th century. My thesis sets out to prove the contrary: lettrism reveals the basic prerequisite of literature, the combination of single letters.