Der von Genette in die narratologische Systematik eingeführte Begriff der Metalepse wird hier enger gefaßt als bei Genette selbst und ausschließlich solchen Erzählweisen vorbehalten, die ein Verhältnis der Simultaneität zwischen erzählendem discours und erzählter histoire behaupten und die man deshalb als pseudo-performativ charakterisieren kann. Derartige Erzählweisen stehen in einem originären Zusammenhang mit der Erzähltechnik des entrelacement, die sich in der französischen mittelalterlichen Epik ausgebildet und dann vor allem im italienischen romanzo weiter diversifiziert hat. Die textile Metapher des entrelacement benennt eine Formularik, die den Wechsel zwischen verschiedenen Strängen einer Erzählung anzeigt. Konstitutiv für diese Formularik ist die Fokussierung auf den Erzählvorgang selbst und auf den Erzähler als dem Organisator polyzentrischer Erzählwelten. Metalepsen entstehen zunächst als vereinfachte Varianten von entrelacement-Formeln, indem sie deren verbum narrandi einsparen. Die semantischen Implikationen dieser syntaktischen Reduktion sind indessen spektakulär: Der Erzähler spricht jetzt nicht mehr über das erzählte Geschehen als ein vergangenes, sondern scheint in unmittelbare 'szenische' Interaktion mit ihm zu treten. Der erzählten Welt wird damit, und sei es auch nur ironisch, ein Prädikat der Konsubstantialität mit der erzählenden Welt zugewiesen. Während nun rudimentäre Metalepsen weitgehend in ihrer histoire-integrativen Funktion aufgehen und ihr paradoxales Sinnpotential gleichsam stumm bleibt, wird dieses Sinnpotential in aufwendigeren Varianten sukzessive aktualisiert; schließlich kann es die Umrisse einer Poetik annehmen, die das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit in Frage stellt oder jener sogar höheren epistemischen Rang zuspricht als dieser. Dieser Prozeß einer Erschließung metaleptischer Sinnressourcen wird zunächst an Beispielen aus Ariosts Orlando Furioso sowie einem größeren Korpus neuzeitlicher Erzählliteratur dokumentiert und analysiert. Eine ausführliche Interpretationsskizze des Orlando Furioso soll schließlich die komplexen dichtungsprogrammatischen Valenzen metaleptischer Konfigurationen an einem konkreten Beispiel aufzeigen: In Ariosts romanzo fungieren Metalepsen als kleinste Einheiten einer Paradigmatik, die ihre paradoxe Logik auf verschiedenen Strukturebenen des Textes durchspielt. Der Orlando Furioso gibt sich als ein genealogisches Epos in der Tradition der Aeneis und beansprucht, die Deszendenz des Herrscherhauses der Este zu besingen. Die Applikation metaleptischer Erzählweisen auf ein genealogisches Sujet hat freilich brisante Konsequenzen: An die Stelle der Vorsehung, die in der Aeneis das erzählte Geschehen leiten soll und als deren bloßer Sekretär Vergils epischer Sänger sich darstellt, tritt bei Ariost dieser Sänger selbst. Anders als das Augusteische Rom erscheint das Ferrara der Este nicht mehr als telos providentieller Fügungen, sondern als Derivat einer Vorgeschichte, die von einem unzuverlässigen Erzähler generiert und kontrolliert wird. Was zunächst als politisch verfängliche, aber zugleich fiktionsironisch suspendierte narrative Praxis Gestalt annimmt, wird in der sogenannten Mondepisode zu einer Poetik extrapoliert, die den Dichter als eigentlichen Schöpfer der Geschichte einsetzt. Diese Poetik gewinnt ihre Konturen nicht zuletzt über profanierende Reminiszenzen theologischer und astrologischer Theoreme, die ebenfalls Zeichenrelationen vorsehen, in denen das Verhältnis von res und verba zugunsten einer Priorität letzterer umgekehrt ist und die insofern Metalepsen strukturell ähnlich sind.
In this book, I argue that the term of metalepsis should be exclusively reserved for those modes of narration, which postulate relations of simultaneity between narrative discours and narrated histoire. I show how such modes of narration emerge in the context of the French medieval literature of entrelacement and then develop manyfold variations, above all, in the Italian romanzo. Then, analyzing Ariosto`s Orlando Furioso and a extensive corpus of modern narrative texts from Fielding to Calvino, I trace the gradual amplification of the paradoxical meaning of metalepsis, culminating in the formulation of a poetics of metalepsis: the metalepsis not only undermines the hierarchical relation between fiction and reality but even confers to fiction a higher epistemic status than to reality. An interpretation of the Orlando Furioso finally illustrates these general considerations: Ariosto applies the paradoxical logic of metaleptical narration to a genealogical subject, the descent of the Este dynasty. Whereas, in the Aeneis, Providence conducts the narrated events, in Ariosto`s work its place is taken by the narrator himself. Therefore, in contrast with Augustus' Rome, the Ferrara of the Este does not appear any longer as a providential telos but as a mere derivative of a prehistory that is generated and controlled by the narrator. In the so-called lunar episode, this narrative practice takes on the form of a poetological programm that declares the poet the real creator of history. This poetics is largely based on allusions to theological and astrological theorems, which also postulate semiotic relations in which the hierarchy of res and verba is reversed in favour of a priority of the latter and which, from that point of view, are structurally similar to metalepsis.