Wanderungsbewegungen gehören zu den zentralen Gegenständen historischer Forschung und Darstellung. Sie fungieren als historische Wegmarken oder Epochenschwellen und spielen eine zentrale Rolle bei der (Trans-) Formation von Räumen und kollektiven Identitäten. Dabei weisen moderne wissenschaftliche Darstellungen von Wanderungsbewegungen aus unterschiedlichen Kontexten, Zeiten und Räumen erstaunliche inhaltliche Ähnlichkeiten und analoge Erzählmuster auf, die sich keineswegs durch vermeintliche Parallelen in den dargestellten Ereignissen erklären lassen. Vielmehr scheinen diese ihren Hintergrund in der Art und Weise zu haben, wie Migrationen dargestellt und erzählt werden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes decken ein breites Spektrum vornehmlich altertumswissenschaftlicher Disziplinen ab und vermögen zu zeigen, dass noch die jüngere Wanderungshistoriographie tradierten Erzählmustern folgt, die teilweise bis in die Antike zurückreichen.
Weniger anzeigenEines der Hauptcharakteristika der intentionalen Geschichte der Griechen, also der Ge- schichte in ihrer eigenen Sicht, war die wesentliche Rolle, die Geschichten von Wanderun- gen, Kolonisation, Vertreibungen und Rückwanderungen spielten. Diese Narrative dienten als Elemente zur Organisierung und Strukturierung der Vergangenheit, zur Bestimmung von Nähe und Differenz, zur Erklärung von Freundschaft und Feindschaft. Durch den Ein- satz solcher Geschichten und der ihnen innewohnenden Prinzipien konnten die Griechen auch ihnen fremden Gruppen, den ‚Barbaren‘, einen Platz in ihrem eigenen Vergangen- heitsraum geben. Da manche dieser Gruppen (das prominenteste Beispiel sind die Römer) diese ‚Geschichten‘ als Teil ihrer eigenen Tradition übernahmen, blieben diese ein Modell zur Erklärung und historischen Strukturierung von Veränderungs- und Entwicklungspro- zessen. Sogar die moderne historische Forschung, die doch viele dieser Geschichte durch Quellenkritik dekonstruiert hat, steht sehr häufig noch unter dem Einfluss dieser Modelle und Konzepte
Weniger anzeigenMit den ‚hamitischen Wanderungen‘ ist ein Ende des 19. Jahrhundert aufgekommenes wissenschaftliches Theorem gemeint, das darauf abzielt, dem vermeintlich geschichtslosen Kontinent Afrika ein geschichtliches Kleid zu verleihen. Demnach seien in vorgeschichtlicher Zeit hellhäutige Hirtenvölker aus Asien nach Afrika gewandert, die durch ihre kulturelle Überlegenheit beispielsweise staatliche Organisationsformen in Afrika einführten. Die Theorie der Hamiten hatte ihre Blütezeit, als die Europäer ihre Vorherrschaft in Afrika ausübten. In der Nachkriegszeit ist sie weitgehend aufgegeben worden. Dieser Beitrag zielt darauf ab, einerseits die ideologischen Komponenten dieses ‚dynamischen Blicks‘ auf das prähistorische Afrika herauszuarbeiten, andererseits möchte er das Methodenproblem aufzeigen, wenn Befunde der Linguistik, der Ethnologie und der Anthropologie unsachlich miteinander verbunden werden.
Weniger anzeigenDieser Beitrag analysiert die Geschichte der Turfan-Forschung unter zwei Aspekten: Erstens war die Archäologie eine Form von kulturimperialistischer Machtpolitik, die sich in der konfliktreichen Aufteilung von Grabungssphären zwischen deutschen, russischen, französischen und britischen Wissenschaftlern niederschlug. Zweitens war die Suche nach der ‚Urheimat‘, die hinter diesen Expeditionen stand, eine Suche nach der eigenen kulturellen Identität. Zusammenfassen lassen sich diese beiden Aspekte in der These, dass die Wandermythen der Turfan-Forschung unterschiedliche und historisch wandelbare Identitätsentwürfe katalysierten: Die aufgefundenen Objekte ließen sich aufgrund ihrer Interpretationsoffenheit sowohl in kosmopolitischen, also auch völkischen Entwürfen von Zivilisation und Kultur verorten.
Weniger anzeigenIn dem Artikel nehme ich eine kritische Würdigung der Suche nach einem Zentrum der indoeuropäischen Grundsprache und ihrer Ausbreitung vor, wie sie vor allem in den Altertumswissenschaften erfolgt ist. Ich beschränke mich dabei auf die Interpretationen, in denen die osteuropäische Steppenzone als Ursprungsgebiet identifiziert wurde. Insgesamt lässt sich die Forschungsgeschichte in vier Phasen untergliedern. Die Diskussionen waren zu allen Zeiten von drei Konstanten geprägt: Ausbreitung der Grundsprache durch große Populationsbewegungen, Dominanz der migrierenden Gruppen und einer erhöhten Bereitschaft zum Wandern wegen einer mobilen Lebensweise seitens der Sprecher des Protoindoeuropäischen. Diese konstant geäußerten Annahmen wurden bislang nur selten hinterfragt, ein Defizit, dem ich in diesem Beitrag entgegen zu treten versuche
Weniger anzeigenUm 1900 veränderte sich die historiographische Darstellung von Migration. Wurden Wanderungen zuvor als singuläre Ereignisse vorgestellt, die sich linear erzählen lassen, verschwanden nun die Grenzen zwischen den einzelnen Wanderungen und verdichteten sich in der Vorstellung wiederkehrender oder permanenter Migrationen. In der Geschichtsschreibung zum Alten Orient führte dies zur Vorstellung, wonach dem Orient ein spezifischer Rhythmus eingeschrieben sei, der eine nachhaltige historische Entwicklung unmöglich mache. Keineswegs lässt sich dieses Modell als bloßes Produkt einer kolonialen oder ‚orientalistischen‘ Historiographie begreifen. Seine Verwendung in differenten politischen Kontexten weist vielmehr auf die grundsätzliche ideologische Offenheit historiographischer Erzählmuster hin.
Weniger anzeigenNarrative haben drei Elemente zu ihrer strukturellen Voraussetzung: Erstens eine identifizierbare Handlungsinstanz, zweitens einen sinnfälligen Anfangs- und Endpunkt sowie drittens einen ‚roten Faden‘, der, eine bloße Chronologie übersteigend, die Kohärenz des Geschilderten gewährleistet. Es erstaunt daher nicht, dass Wanderungen ein naheliegender Gegenstand von Narrativen sind, ist bei ihnen doch die Dialektik von Kontinuität und Veränderung besonders anschaulich. Mein Beitrag widmet sich Wanderungsnarrativen in der Ur- und Frühgeschichtsforschung, wobei die Frage leitend ist, wie vor dem Hintergrund der besonderen Quellenlage die genannten drei Elemente rekonstruiert bzw. konstruiert und zu einem Narrativ gefügt werden. Die aus der Neolithikum- und Frühmittelalterforschung stammenden Fallbeispiele zeigen auf unterschiedliche Weise, wie verführerisch einerseits und irreführend andererseits eine Orientierung an narrativen Idealen für die Darstellung archäologischer Sachverhalte sein kann.
Weniger anzeigenIm vorliegenden Beitrag werden Gustaf Kossinnas Darstellungen prähistorischer Wanderungen vor dem Hintergrund der kartographischen Traditionen und der völkischen Publizistik in der deutschen Ur- und Frühgeschichtlichen Archäologie diskutiert. Ab 1910 veröffentlichte Kossinna Karten, auf denen er die Verbreitung archäologischer Funde als gegen einander abgrenzbare Wolken verschiedener Signaturen zeigte. Erst ab den 1920er Jahren markierte er auf Karten Grenzverläufe archäologischer Phänomene und stellte so die von ihm postulierten prähistorischen Kulturprovinzen dar. Indem er dafür mehrere datierbare Grenzverläufe gemeinsam kartierte, visualisierte er schließlich die Wanderungsbewegungen und Besiedlungsabfolgen, die er bis dahin nur verbalisiert hatte.
Weniger anzeigenMigrationen eignen sich ideal dazu, erzählt zu werden. Sie spielen bei der Thematisierung kulturellen Wandels, der (Trans)Formation von Räumen oder der Konstituierung von Identitäten eine zentrale Rolle. Anknüpfend an narratologische Ansätze in der Historiographiegeschichte fragen wir, wie Migrationen erzählt werden und welche spezifischen Erzählmuster dabei in den Altertumswissenschaften Verwendung finden. Nach Einführung des zentralen Begriffs der historiographischen Wanderungsnarrative skizzieren wir die empirisch-rekonstruktive Konstituierung kollektiver Identitäten und ihre Verknüpfungen mit Räumen. Sodann stellen wir die Beiträge des Sammelbandes thematisch gegliedert vor, um abschließend weitere Perspektiven einer narratologischen Erforschung von Wanderungs-historiographien aufzuzeigen
Weniger anzeigenDieser Artikel betrachtet Wanderungsbewegungen aus der Perspektive der Migrationsforschung in der Ethnologie. Der Fokus liegt auf zentralen Konzepten und Diskursen, die in der ethnologischen Migrationsforschung Relevanz erlangt haben, sowie auf Bildern und Narrativen, die mit den Wanderungsprozessen verknüpft sind. Dazu skizziere ich die Geschichte dieses Teilgebiets der Ethnologie und beziehe mich dabei im Wesentlichen auf zwei Ansätze, die jeweils mit einem Forschungsinstitut verbunden sind: Die Chicago School of Sociology und die Manchester School in Afrika. Das heutige Verständnis von Migration aus ethnologischer Sicht stelle ich anhand der Konzepte zu Transnationalismus und Diaspora dar.
Weniger anzeigenDie Spätantike und das frühe Mittelalter hatten keine Vorstellung von einem ‚Wandern der Völker‘, und auch die Epochengrenzen zwischen Altertum und Mittelalter sind eine gelehrte Konstruktion der Frühen Neuzeit. Seit dem frühen 16. Jahrhundert entstanden sowohl das zugrunde liegende Geschichtsbild als auch die Begriffe migratio gentium und später ‚Völkerwanderung‘. Der frühneuzeitliche Völkerwanderungsbegriff hatte wiederum vielerlei Bezüge zur antiken Literatur und deren Vorstellung von Wanderung und Sesshaftigkeit.
Weniger anzeigenThe continuous migration of the Sarmatians from East to West is still considered an historical fact. The fundaments of this theory, however, are tricky: the Iranian tie of all the populations on the north-eastern edge of the ancient world is too weak to support the existence of one ancient ethnos; our current image of the Sarmatians is the result of loose readings of texts and archaeological evidence, nourished by nationalistic convictions. This paper de-constructs the currently accepted Sarmatian migrations and proposes a new history of the invention of the Sarmatians, through the critical re- examination of the linguistic and archaeological data as well as of the historiographical theses of the last 500 years.
Weniger anzeigenGenetic History untersucht historische Fragen mit der Quelle DNA. Migrationen sind ihr Hauptgegenstand, woraus sich eine große Bedeutung für die Mediävistik ergibt. Doch bis vor kurzem waren Historiker nicht beteiligt. Der Beitrag gibt eine Definition der neuen Disziplin (1), untersucht die Rolle des Konzeptes Migration in der Populationsgenetik (2) und beschreibt den Stand der Migrationsforschung in der Mediävistik (3). Anschließend gibt er einen kurzen Überblick über die von der Genetic History untersuchten Migrationsräume (4), betrachtet exemplarisch zunächst eine Studie zur angelsächsischen Migration nach Britannien (5) und dann ein aktuelles Projekt, in dem erstmals ein Mediävist die Leitung innehat (6). Der Beitrag endet mit einigen allgemeinen Beobachtungen und Postulaten (7).
Weniger anzeigen