Diese Arbeit analysiert den Krisenbegriff und seine Bedeutung für den soziopolitischen Denkrahmen von Zukunftsvisionen. Einführend untersucht die Arbeit die Implikationen des Krisenbegriffs und beschreibt, wie dieser in öffentlichen Narrativen besondere Wirkmacht entfaltet. Eine hermeneutische Interpretation der ersten „Rede zur Zeitenwende“, in der Olaf Scholz die zukunftsprägenden Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine adressiert, veranschaulicht sowohl die Chancen als auch die Probleme eines auf dem Krisenbegriff gründenden Zukunftsentwurfs. Insbesondere zeigt die Interpretation auf, dass Scholz den Krisenbegriff als ‚Zeitenwende‘ neu formuliert, um so die erfolgreiche Bewältigung der Krise narrativ vorwegzunehmen und zu suggerieren, dass die Zukunft nach der Krise sowohl im normativen als auch im epistemischen Sinn gesichert ist.
Die vorliegende Arbeit verfolgt zwei wesentliche Ziele. Zum einen soll sie aufzeigen, inwiefern der Krisenbegriff den erkenntnistheoretischen Denkrahmen möglicher Zukünfte setzt und damit ein besonderes Zeitverständnis formt. Zum anderen soll sie die soziopolitischen Implikationen eines solchen krisengeprägten Zukunftsdenkens problematisieren. Als Behauptung einer bereits bewältigten Krise verdeutlicht das Narrativ der ‚Zeitenwende‘ einerseits, dass Zukunftssicherheit – in Form einer einzig möglichen und einig gewünschten Zukunft – zur legitimierenden Grundlage nationaler Deutungshoheit und politischer Handlungsmacht wird. Andererseits blendet ein solches Narrativ, das zukunftssichere Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit als Antwort auf die Krise betont, alternative Zukunftsentwicklungen nicht nur aus, sondern lässt sie sogar undenkbar werden. Abschließend reflektiert diese Arbeit deshalb kritisch die Grenzen des Denkrahmens öffentlich wirkmächtiger Narrative, welche die Krise zum Ausgangspunkt eines Zukunftsentwurfs im Namen einer bestimmten und einigen Gemeinschaft machen.
This thesis analyzes how the concept of crisis shapes sociopolitical frameworks of thinking about the future. First, it addresses the implications of the concept of crisis and its use in public narratives. Then, it turns to German federal chancellor Olaf Scholz’s first policy statement following the Russian attack on Ukraine, in which he describes this critical moment as a ‘watershed’, or Zeitenwende, and addresses how the resulting war will shape Germany’s future. A hermeneutic interpretation of the chancellor’s speech illustrates both the opportunities and the problems of formulating a vision of the future based on the concept of crisis. In particular, the interpretation shows that Scholz reformulates crisis as a ‘watershed’ to narratively anticipate its successful resolution and to suggest that the post-crisis future is secured in both a normative and an epistemic sense.
This paper pursues two main objectives. Firstly, it illuminates how the concept of crisis determines the epistemological framework for thinking about possible futures, thus forming a particular temporal understanding. Secondly, it problematizes the sociopolitical consequences of a futures thinking that originates from and is shaped by crisis. As an assertion of a crisis that has already been overcome, the ‘watershed’ narrative illustrates, on the one hand, that certainty about the future – postulated as the only possible and unanimously desired future – is meant to legitimize both a national sovereignty of interpretation and political agency. On the other hand, by emphasizing the ability to shape a single possible future in response to crisis, such a narrative not only ignores alternative future developments but even renders them unthinkable. This work therefore concludes by reflecting critically on the limits of the conceptual frameworks set by powerful public narratives that take crisis as the starting point for a future secured in the name of a particular, unified community.