Agrarische Dorfgemeinschaften (comunidades) in Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas werden insbesondere im Rahmen politischer Diskurse häufig auch heute noch als Inbegriff einer gemeinschaftlichen Wirtschafts- und Lebensweise indianischer Kleinbauern dargestellt. Die Regeln, nach denen sie ihr Land verteilen und nutzen, gelten dabei als "traditionell". Auch das mexikanische Ejido wird oft als traditionelle Gemeinschaft betrachtet, obwohl es erst im Zuge der Agrarreform nach der Revolution (1910-1917) eingerichtet wurde. Allerdings betrachten Regierungsmitarbeiter, Agrartechniker und große Teile der Bevölkerung die "Bauern" (Campesinos) in den ländlichen Gemeinschaften als ineffektiv und viele ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen als irrational. Sie sind der Auffassung, Arbeitskraft, Kapital und Produktionsmittel würden nicht hinreichend in die Landwirtschaft investiert. Tatsächlich veräußern ejidale Produzenten zuweilen wichtige Produktionsmittel wie z.B. Traktoren oder Mineraldünger, obwohl sie diese selbst für die Feldbestellung einsetzen könnten. Ejidatarios, denen moderne Anbautechniken zur Verfügung stehen, halten häufig an überkommenen Formen der Landwirtschaft fest. Viele der mit beträchtlichem finanziellen Aufwand durchgeführten Entwicklungsprogramme in den ländlichen Dorfgemeinschaften sind in wesentlichen Punkten gescheitert. Nach Auffassung von Regierungsstellen zeigt der Erfolg privater Agrarbetriebe, daß das wirtschaftliche Handeln der Bevölkerung in den ländlichen Gemeinschaften vor allem durch kulturelle Faktoren beeinträchtigt werde. Zudem hätten insbesondere die Organisationsform des Ejido und der Comunidad sowie der Paternalismus früherer Regierungen verhindert, daß sich die Campesinos zu "vernünftigen" Produzenten entwickelten. In dieser Arbeit wird die These vertreten, daß die pauschal negative Bewertung des sozialen Sektors (Ejidos und Comunidades) und der Vorwurf, die Bauern in ländlichen Gemeinschaften handelten irrational - in dem Sinne, daß sie unvernünftige, obsolete und dem gegenwärtigen Kenntnisstand widersprechende Praktiken aus "Tradition" oder bestimmten Verhaltensdispositionen (wie z.B. Faulheit) verfolgten - im wesentlichen auf einer eingeschränkten Sichtweise beruht, welche dem besonderen Charakter und der Funktionslogik der Haushaltsökonomie ländlicher Unterschichten nicht gerecht wird. Rationalität wird dabei in der Regel mit wirtschaftlichem Erfolg gleichgesetzt, der eindimensional an der Höhe der Hektarerträge oder der Erlöse aus dem Verkauf von Anbauprodukten bemessen wird. Eine ähnlich beschränkte Sichtweise findet sich auch in einem großen Teil ökonomischer und wirtschaftsanthropologischer Studien agarischer Gesellschaften, die sich auf Grundannahmen der klassischen und neoklassischen ökonomischen Theorie stützen. Sie gehen von der zunächst plausiblen Annahme aus, daß rationalem wirtschaftlichen Handeln ein Streben nach Nutzenmaximierung zugrunde liege, der Mensch also bestrebt sei, mit möglichst geringem Aufwand einen möglichst großen Nutzen zu erzielen. Beim Entwurf von Modellen, insbesondere wenn mathematische Berechnungsverfahren angewandt werden, wird der Nutzenbegriff dann jedoch nur auf eine oder wenige Dimensionen (v.a. Profit oder Reichtum) reduziert. Darüber hinaus wird meist vorausgesetzt, daß die Akteure tatsächlich über alle notwendigen Kenntnisse verfügen und die Ergebnisse ihres Handelns vollständig voraussehen können. Tatsächlich sind die individuellen Handlungsspielräume jedoch in der Regel beschränkt und die zur Verfügung stehenden Informationen unvollständig. Die Folgen ihres Tuns sind für die Akteure häufig nicht gänzlich absehbar. Meines Erachtens ist die Hypothese der Nutzenmaximierung, sofern sie sich auf eine oder wenige Dimensionen beschränkt, äußerst problematisch. Denn Nutzen wird von den Akteuren situativ und bezogen auf unterschiedliche Bedürfnisse subjektiv definiert. Die Strategien der Bedürfnisbefriedigung können langfristig oder kurzfristig ausgerichtet sein. Handlungen sind häufig Folgen von Abwägungen, bei denen für mehrere, gleichzeitig bestehende und miteinander konkurrierende Bedürfnisse ein akzeptabler, in den einzelnen Dimensionen häufig nicht optimaler Grad an "Nutzen" in Form eines Kompromisses angestrebt wird. Deshalb kann die Rationalität einer bestimmten ökonomischen Handlung nur durch ihre Einbettung in den zeitgenössischen Kontext und in ihren historischen Zusammenhang verstanden werden. Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zum Verständnis der Wirtschaftsstrategien ländlicher Unterschichten und zu den Auswirkungen neoliberaler Politik im Agrarsektor leisten. Sie basiert auf fast zweijähriger Feld- und Archivforschung und analysiert die Handlungsbedingungen und -logiken der Landbevölkerung am Beispiel der Entwicklung einer von der Agrar- und Forstwirtschaft geprägten Region im Südosten Mexikos, dem Landkreis (Municipio) Hopelchén (auch Chenes- Region genannt) im Bundesstaat Campeche auf der Halbinsel Yucatán seit der Revolution. Die Einführung von Ejidos im Rahmen der Agrarreform und eine dirigistische, auf die Kontrolle der ländlichen Bevölkerung abzielende Politik des Staates bildeten neben den unterschiedlichen politischen und wirtschaftlichen Konjunkturen und den sich verändernden Umweltbedingungen grundlegende Bestimmungsfaktoren der Ökonomie der ländlichen Haushalte. Bei der Mehrzahl der Haushalte in den Ejidos Mexikos handelt es sich um Haushaltswirtschaften, d.h. die ihnen zur Verfügung stehende Arbeitskraft beschränkt sich auf ihre Mitglieder. Deshalb unterscheidet sich ihr wirtschaftliches Handeln signifikant von jenem kapitalistischer Betriebe, die auf dem regelmäßigen Einsatz von Lohnarbeit beruhen. Die spezifische Funktionsweise von Haushaltswirtschaften ist bereits in beeindruckender Weise durch die Arbeiten des russischen Agrarökonomen Alexander Tschajanow in seinen Überlegungen zur bäuerlichen "Familienwirtschaft" untersucht worden. M.E. leistet dieses Modell auch gegenwärtig noch einen bedeutenden Beitrag zur Bestimmung zentraler Faktoren, welche die Haushaltsökonomie prägen. Die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten bildet deshalb einen wichtigen Teil der theoretischen Vorüberlegungen zur empirischen Fallstudie. Eine ausführliche Diskussion seines Ansatzes ist auch deshalb geboten, weil selbst in Standardwerken zahlreiche Stigmatisierungen und Mißverständnisse über Tschajanows Werk zu finden sind. Darüber hinaus waren für diese Arbeit auch solche Forschungsansätze von besonderer Bedeutung, die sich mit den wirtschaftlichen Spielräumen und den Strategien zur Risikoverminderung von Haushalten mit begrenzten Ressourcen beschäftigen. Sie zeigen, daß gerade hier die Kombination von Wirtschaftsstrategien einen existentiellen Beitrag zur Verringerung wirtschaftlicher Risiken leistet. So haben sich innerhalb der ländlichen Haushalte komplexe Systeme herausgebildet, in welchen mehrere Wirtschaftsbereiche (Anbau, Tierhaltung, Lohnarbeit usw.) eng miteinander verbunden sind. Diese Verflochtenheit verbietet eine isolierte Betrachtung einzelner Aktivitäten, wie sie pauschalen negativen Bewertungen der Ökonomie ländlicher Gemeinschaften häufig zugrundeliegt. Da es bei der Verfolgung verschiedener Wirtschaftsstrategien mitunter zu Konflikten kommt (da z.B. nur eine begrenzte Zahl an Arbeitskräften oder nur wenig Produktionskapital zur Verfügung stehen), können einzelne Aktivitäten oft nicht optimal verfolgt werden. Suboptimale Ergebnisse in einzelnen Bereichen sind also häufig nicht das Ergebnis mangelnden ökonomischen Sachverstands, sondern notwendige Begleiterscheinung eines komplexen Wirtschaftssystems.
Agrarian village communities (comunidades) in Mexico and other Latin American countries are still described today, particularly in political discourse, as the epitome of the communitarian economy of Indian peasants and their way of life. The principles by which they distribute and utilise their land are considered "traditional". Although first introduced in the course of the agrarian reform that succeeded the Revolution (1910-1917), even the Mexican ejido is looked upon as a traditional community. Yet, government officials, agricultural technicians and most of the population consider "peasants" (campesinos) in rural communities ineffective and many of their economic decisions irrational. They believe that labour, capital and the means of production are not put to sufficient agricultural use. Ejido producers do, in fact, occasionally sell important means of production such as tractors or fertiliser, although they could use them in cultivating their own fields. Despite access to modern cultivation techniques, ejidatarios frequently persevere with traditional agricultural methods. Many of the development programmes carried out in rural village communities at considerable financial expense have virtually failed. According to government sources, the success of private agricultural enterprises indicates that rural economic activities are particularly affected by cultural factors. Moreover, the organisational structure of ejidos and comunidades combined with the paternalism of former governments had also played a role in hindering campesinos from becoming "sensible" producers. This thesis argues that the indiscriminate negative assessment of the social sector (ejidos and comunidades) and the allegation that peasants in rural communities behave irrationally - in the sense of pursuing practices that are foolish, obsolete and contrary to current standards for "traditional" reasons or due to a certain attitude (such as laziness, for instance) - are essentially the result of a narrow viewpoint that does not do justice to the specific features and inner logic of the household economy of the rural lower classes. Rationality is here commonly equated with economic success, the significance of which is measured by the size of the harvest per hectare or the proceeds from selling their products. Most economic and anthropological studies on agrarian societies reveal a similarly biased viewpoint, relying on fundamental assumptions of classic and neoclassic economic theories. Their statements emanate from the initially plausible assumption that a desire for profit maximisation is the basis of rational economic performance. In other words, man strives for the greatest possible utility with the least amount of effort. In designing models, particularly those that apply mathematical calculations, the term utility is reduced to one or more dimensions (especially profit or wealth). Furthermore, it is generally assumed that actors are in possession of the necessary skills and can wholly predict the results of their work. In reality, however, individual scope for activity is usually subject to constraints and the available information incomplete. For the actors themselves, the consequences of their actions are not always clear in advance. The concept of profit maximisation is extremely misleading in my opinion when it is reduced to merely one or more dimensions, since actors define it subjectively, depending on the situation and in relation to different needs. Strategies for the satisfaction of needs can be applied in the short or the long term. Activities are often the result of considerations whereby an acceptable, albeit in individual dimensions not always maxium degree of utility is sought for a variety of simultaneously competing needs in the form of a compromise. The rationality of a specific economic activity can, therefore, only be understood if embedded in the framework of its contemporary and historical context. This thesis wishes to contribute to an understanding of economic strategies employed by the rural lower classes and of the consequences of neo-liberal policies in the agrarian sector. It is based on almost two years of fieldwork and archival study and analyses the conditions for action that prevail among the rural population and their logic, taking the case of a region that has been shaped by an agricultural and forestry economy in the south east of Mexico and its development since the Revolution, i.e., the District (Municipio) of Hopelchén (also known as the Chenes Region) in the Federal State of Campeche on the Yucatán peninsula. The introduction of ejidos during agrarian reform and the regimental state policy aimed at controlling the rural population, as well as various political and economic trends and changing environmental conditions became determining factors of the rural household economy. The majority of Mexican ejido households can be characterised as household economies, i.e., the labour available is confined to their members. Their economic activities differ therefore fundamentally from capitalist enterprises based on the regular use of wage labour. The distinct operation of household economies has already been admirably researched by the Russian agrarian economist, Alexander Tschajanow (Chayanov), in his work on the peasant "family economy". To my mind, this model still contributes significantly to determining the key factors that shape household economies. A close examination of his work is thus an integral part of the theoretical preamble to the empirical case study. A detailed discussion of Tschajanow's approach seems wise, not least because of the numerous misunderstandings and reproaches that appear even in standard works with regard to his ideas. Moreover, research approaches dealing with the economic scope of households with limited resources and their risk strategies were also of particular importance for this work. They demonstrate that here in particular the combination of economic strategies represents a crucial contribution to risk reduction. Thus, complex systems have emerged in rural households, where several economic sectors (cultivation, animal husbandry, wage labour etc.) are closely connected with each other. These interconnections forbid an isolated view of individual activities, commonly at the base of indistriminately negative conclusions on the economy of the rural communities. Given that pursuing diverse economic strategies can lead to conflict (where, for example, only very little production capital or a limited number of labourers is available), instances of individual activities not being performed to maximum effect can occur. Thus, less than perfect results in specific areas are not always due to lack of economic expertise but rather a necessary side effect of a compex economic system.