Hintergrund Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine der häufigsten psychischen Störungen als Folge eines traumatischen Lebensereignisses. Forschungsergebnisse zeigen, dass traumatisierte Individuen mit einer PTBS zeit ihres Lebens vulnerabel bleiben für einen Wiederanstieg der Symptomatik und dass einem beträchtlichen Teil der Allgemeinbevölkerung, der irgendeine Art von Trauma erlebt hat, später weitere traumatische Ereignisse begegnen werden. Diese späteren traumatischen Lebensereignisse – egal, ob es eine erneute Konfrontation mit einem Trauma oder die Konfrontation mit traumaassoziierten Stimuli ist – können zu einer Verstärkung bzw. einem Wiederanstieg der PTBS-Symptomatik führen. Dieser Symptomwiederanstieg wird bezeichnet als Reaktivierung oder Retraumatisierung, unabhängig davon, ob er leicht, vorübergehend, schwer oder anhaltend ist. Es fehlt bisher eine eindeutige Abgrenzung und Differenzierung zwischen den Phänomenen der Reaktualisierung und der Retraumatisierung und also auch eine genaue Definition von letzterer. Es ist zu klären, (1) ob es sich bei dem Ereignis, das den Wiederanstieg der PTBS- Symptomatik auslöst (d.h. eine Retraumatisierung oder Reaktivierung), ausschließlich um ein traumatisches Ereignis handeln muss oder ob auch belastende Lebensereignisse in gleicher Weise eine psychopathologische Reaktion hervorrufen können und (2) wie lange der PTBS-Symptomwiederanstieg anhält. Methoden Die vorliegende Dissertation hat zunächst bisher durchgeführte Studien ausgewertet, um eine Annäherung an den Begriff „Retraumatisierung“ zu erreichen und Faktoren zu ermitteln, auf deren Grundlage sich dieses Konstrukt definieren lässt. Eine erste Studie hat anschließend die Auswirkungen eines traumaassoziierten Stimulus auf die PTBS- Symptomatik untersucht. Als traumaassoziierter Stimulus diente die Anhörung innerhalb des Asylverfahrens. Dazu wurden in einer Prä-post- Messung 40 traumatisierte Flüchtlinge vor und nach ihrer Anhörung innerhalb des Asylverfahrens im Hinblick auf ihre PTBS, Angst und depressive Symptomatik befragt. Zusätzlich wurde in einer Kontrollgruppe ohne Anhörung im gleichen zeitlichen Abstand die Symptomatik erhoben. Außerdem wurden Variablen bezüglich der Anhörung wie „wahrgenommene Gerechtigkeit während der asylrechtlichen Anhörung“,“empfundener psychischer Stress während der asylrechtlichen Anhörung, hinsichtlich des Berichtens über traumatische Ereignisse“ und „empfundene psychische Belastung durch das Warten auf die Anhörung“ als mögliche Prädiktoren erhoben. Die Werte für die PTBS- Symptomatik wurden mit der Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS) und die zu Angst und depressiver Symptomatik mit der Hopkins-Symptom- Checklist-25 (HSCL-25) erhoben. Die Anhörungsvariablen basierten auf einer modifizierten und angepassten Version des Trial Variables Questionnaire von Orth und Maercker (2004). Symptomunterschiede zum Zeitpunkt vor zum Zeitpunkt nach der Asylrechtlichen Anhörung wurden mittels gepaarter t-Tests berechnet. Das Ausmaß der Effektstärke wurde auf Grundlage von Cohen ́s d-Effektstärken ermittelt. Hierarchische Regressionsanalysen wurde für die demographischen Variablen und die Anhörungsvariablen bezgl. posttraumatischer Intrusionen, Vermeidung und Übererregung durchgeführt. In einer Längsschnittstudie wurden die Auswirkungen einer erneuten Konfrontation mit einem Trauma oder einem traumaassoziierten Stimulus untersucht. Dazu wurden über einen Zeitraum von 12 Monaten zu Beginn der Behandlung, nach 6 Monaten und nach 12 Monaten die PTBS (PDS), Angst und Depression (HSCL-25) erhoben. Mit Hilfe einer „List- of-Life-Events“ wurden regelmäßig sowohl belastende traumaassoziierte Stimuli und Postmigrationsstressoren als auch potentiell belastende und traumatische Ereignisse erfasst. Die Erfassung eines solchen erneuten Traumas oder eines traumaassoziierten Stimulus ergab zusätzliche Messzeitpunkte, in denen unverzüglich die PTBS, Angst und depressive Symptomatik erhoben wurden. Innerhalb des Erhebungszeitraums erlebten 23 traumatisierte Flüchtlinge eine erneute Konfrontation entweder mit einem Trauma (n = 10) oder mit traumaassoziiertem Stimulus (n = 13), diesen wurden 23 vergleichbare traumatisierte Flüchtlinge der Verlaufsstudie zugeordnet. Zur Auswertung wurden Mann-Whitney-U-Tests berechnet, um die beiden Gruppen hinsichtlich deskriptiver Daten und Baselinerhebung zu vergleichen. Symptomveränderungen zwischen den Erhebungszeitpunkten t1 (baseline), t2 (nach 6 Monaten) und t3 (nach 12 Monaten) wurden mittels Wilcoxon-Tests für anhängige Variablen berechnet. a) Mann-Whitney U-Tests wurden durchgeführt, um Unterschiede zwischen der Gruppe ohne Konfrontation und der Gruppe mit Konfrontation zu berechnen, dabei wurde die erneute Konfrontation als fester Faktor miteinbezogen. b) Um Unterschiede zwischen der Gruppe mit Konfrontation mit einem erneuten Trauma und der Gruppe mit Konfrontation mit einem traumaassoziierten Stimulus zu prüfen, wurden ebenfalls Mann-Whitney U-Tests berechnet. Da die Möglichkeit, statistisch signifikante Unterschiede zu finden, wegen der geringen Stichprobengröße sehr gering ist, wurden zusätzlich Effektstärken berechnet, um auch nicht-signifikante Effekte erklären zu können und um das gesamte Ausmaß der verzeichneten Effekte ermessen zu können. Ergebnisse Auf Grundlage der Analyse bisheriger Studien ließen sich drei zentrale Faktoren für eine Operationalisierung von Retraumatisierung als (Wieder-)Anstieg der PTBS herausarbeiten: (1) Nach einem initialen Trauma muss sich bereits eine PTBS entwickelt haben. (2) Die Intrusionen nach Konfrontation mit einem erneuten Trauma bzw. mit traumaassoziierten Stimuli müssen sich auf das initiale Trauma beziehen. (3) Eine Reaktivierung liegt vor, wenn sich ein weniger schwerer oder moderater Anstieg der posttraumatischen Symptomatik nach Konfrontation mit einem erneuten Trauma oder traumaassoziierten Stimulus entwickelt, den das Individuum jedoch alleine bewältigen kann. Dabei verstärken sich die auf das Ursprungstrauma bezogenen Intrusionen, wenn die traumatischen Ereignisse einander ähneln. Die Auswirkungen eines traumaassoziierten Stimulus (Anhörung innerhalb des Asylprozesses) auf die PTBS-Symptomatik traumatisierter Flüchtlinge zeigten sich als signifikanter Anstieg der posttraumatischen Intrusionen, deren Inhalt sich bei allen Untersuchten auf das als am stärksten belastend erlebte initiale Trauma bezog. Außerdem zeigte sich eine signifikante Abnahme posttraumatischer Vermeidungs- und Übererregungssymptome nach der Asylanhörung. Hinsichtlich der Angst- Symptomatik ließen sich signifikante Symptomänderungen nicht beobachten, jedoch sanken Symptome der depressiven Symptomatik signifikant nach der Asylanhörung. Als Prädiktoren für den Anstieg der Intrusionen wurden die subjektiv erlebte Gerechtigkeit der Asylanhörung, die Anzahl der initial erlebten Traumata und die subjektive Belastung durch das Berichten traumatischer Erlebnisse während der Asylanhörung angegeben. Innerhalb der Untersuchung der Auswirkungen einer Konfrontation mit einem erneuten Trauma oder einem traumaassoziierten Stimulus wurden zum Erhebungszeitpunkt direkt nach der Konfrontation signifikante Anstiege der PTBS-Symptomatik – sowohl im Hinblick auf Intrusionen, Vermeidung und Übererregung – und ebenso der Angst- und depressiven Symptomatik erkennbar. Außerdem zeigten die Ergebnisse, dass ein traumaassoziierter Stimulus den PTBS-Symptomverlauf stärker beeinflusst als die erneute Konfrontation mit einem Trauma. Die Ergebnisse wiesen diesbezüglich signifikante Gruppenunterschiede im PTBS-Gesamtscore zum Zeitpunkt direkt nach der jeweiligen Konfrontation auf. Bei der posttraumatischen Vermeidung war hierbei der größte Unterschied zu beobachten. Zum regulären Messzeitpunkt nach 12 Monaten zeigten sich keine signifikanten Unterschiede mehr zwischen der Grup- pe mit Konfrontation mit einem Trauma oder derjenigen mit einem traumaassoziierten Stimulus. Diskussion Die auf der Basis bisheriger Studien gemachte Annäherung an die Begriffsbestimmung der „Retraumatisierung“ konnte durch die durchgeführten Studien teilweise untermauert und ergänzt werden. Alle Studienteilnehmer hatten nach Konfrontation mit einem initialen Trauma eine PTBS entwickelt, eine Voraussetzung für eine Retraumatisierung. Die Prä-post-Studie zeigte überdies, dass sich die Intrusionen nach einer erneuten Konfrontation auf das initiale Trauma beziehen. Ergänzend belegte die Längsschnittstudie, dass eine Konfrontation mit einem traumaassoziierten Stimulus ebenso wie ein Trauma zu einem PTBS-Symptomanstieg führen kann. In diesem Fall hatte die Konfrontation mit einem traumaassoziierten Stimulus signifikantere Auswirkungen als die mit einem Trauma. Hinsichtlich der Dauer des Symptomanstiegs kann auf Grundlage der durchgeführten Studien in dieser Dissertation keine Definition vorgenommen werden. Da sich relativ rasch ein Symptomrückgang zeigte, lag hinsichtlich der Dauer im Sinn der im ersten Kapitel gemachten ersten Begriffsbestimmung eher eine Reaktualisierung bzw. eine Reaktivierung vor. Künftige Studien sind erforderlich, um zu überprüfen, ob die hier gefundenen Spezifika der Retraumatisierung auch bei anderen Traumapopulationen zutreffen, um das Kriterium für die Dauer des Symptomwiederanstiegs zu spezifizieren und um anhand anderer Traumapopulationen das Konstrukt der Retraumatisierung endgültig zu definieren.
Background Posttraumatic stress disorder (PTSD) is one of the most common mental disorders resulting from a traumatic life event. Research shows that traumatized individuals with PTSD remain vulnerable to a resurgence of symptoms for the rest of their lives and that a considerable part of the general population who have experienced any type of trauma will encounter additional traumatic events in the future. These subsequent traumatic life events—whether it is a renewed trauma or confrontation with trauma-associated stimuli—can lead to an increase or a resurgence of PTSD symptoms. This symptom resurgence is called reactivation or re-traumatization, regardless of whether is it mild, temporary, difficult or prolonged. There is still no clear demarcation and differentiation between the phenomena of reactualization and retraumatization, while the latter also lacks a precise definition. It is necessary to clarify (1) whether the event that triggers the resurgence of PTSD symptoms (i.e., a retraumatization or reactivation) is exclusively limited to a traumatic event or whether stressful life events can cause a psychopathological reaction in the same manner and (2) the duration of the PTSD symptom resurgence. Methods This dissertation first evaluates previously conducted studies in order to arrive at an approach to the term "retraumatization" and to identify factors that can serve as a basis for the definition of this construct. A preliminary study subsequently examined the effects of a trauma-associated stimulus on PTSD symptoms. A hearing in the asylum procedure served as a trauma- associated stimulus. In a pre-post measurement, 20 traumatized refugees were asked before and after their asylum procedure hearing about anxiety and depression symptoms in view of their PTSD. In addition, the symptoms were queried at the same interval in a control group who did not take part in a hearing. Furthermore, variables related to the hearing were ascertained as potential predictors. These included "perceived fairness during the asylum hearing," "perceived psychological stress during the asylum hearing with respect to reporting traumatic events" and "perceived psychological stress caused by waiting for the hearing." The values for the PTSD symptoms were collected using the Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS), while the anxiety and depression symptoms were obtained using the Hopkins Symptom Checklist-25 (HSCL-25). The hearing variables were based on a modified and adapted version of the Trial Variables Questionnaire by Orth and Maercker (2004). For the evaluation, paired t-tests were calculated for the symptom changes at the point in time before and after the asylum hearing. The extent of the effect size was calculated based on Cohen's d-effect sizes. Hierarchical regression analyzes were conducted for demographic variables and the hearing variables with respect to posttraumatic intrusions, avoidance and hyperarousal. In a longitudinal study, the effects of a renewed confrontation with a trauma or a trauma-associated stimulus were examined. Additionally, data for PTSD (PDS) anxiety and depression (HSCL-25) was collected for a period of 12 months: at the beginning of treatment, after 6 months and after 12 months. A "list-of-life events" was used to regularly record both stressful trauma-associated stimuli and postmigration stressors as well as potentially stressful and traumatic events. The recording of such a renewed trauma or a trauma-associated stimulus led to additional measurement times, in which PTSD, anxiety and depression symptoms were immediately collected. Within the survey period, 23 traumatized refugees experienced a renewed confronta- tion either with a renewed trauma (n = 10) or with trauma-associated stimulus (n = 13). These were assigned 23 comparably traumatized refugees from the cohort study. For the evaluation, Mann-Whitney U tests were calculated to compare the descriptive data and the baseline data collection. Symptom changes between the time points t1 (baseline), t2 (after 6 months) and t3 (after 12 months) were calculated using Wilcoxon test for dependent variables. a) Mann-Whitney U tests were performed to calculate differences between the group without confrontation and group with confrontation, while the renewed confrontation was incorporated as a fixed factor. b) Mann-Whitney U tests were also employed to calculate the differences between the group confronting a new trauma and the group confronting a trauma-associated stimulus. Since the possibility of finding statistically significant differences is very small due to the small sample size, effect sizes were also reported to account for non-significant effects and to measure the full extent of the reported effects. Results Based on the analysis of previous studies, three key factors could be arrived at for operationalizing re-traumatization as a resurgence or increase in PTSD: (1) After an initial trauma, PTSD must have already developed. (2) The intrusions after a confron- tation with a renewed trauma or with trauma-associated stimuli must be related to the initial trauma. (3) Reactivation occurs when a less severe or moderate increase in posttraumatic symptoms develops after confronting a renewed trauma or trauma- associated stimulus which, however, the individual can tackle alone (Maercker & Rosner, 2006). In this case, the intrusions related to the original trauma intensify if the traumatic events resemble each other. The effects of a trauma-associated stimulus (an asylum hearing) on the PTSD symptomatology of traumatized refugees demonstrated a significant increase in post- traumatic intrusions, the content of which was related in all those examined to the initial trauma that was experienced as most stressful. In addition, there was a significant decrease in posttraumatic avoidance and hyperarousal symptoms after the asylum hearing. With regard to anxiety symptoms, significant symptom changes were not observed; however, depression symptoms decreased significantly after the asylum interview. The predictors given for the increase in intrusions were the subjective sense of justice of the asylum hearing, the number of initial traumas experienced and the subjective burden of describing traumatic experiences during the asylum hearing. In the examination of the effects of a confrontation with a renewed trauma or a trau- ma-associated stimulus, when data was collected directly after the confrontation, the- re were significant increases of PTSD symptoms detectable, both in terms of intrusi- on, avoidance and hyperarousal as well as anxiety and depression symptoms. Furthermore, the results showed that a trauma-associated stimulus more strongly influenced the PTSD symptom history than the experience of a renewed trauma. In this respect, the results showed significant group differences in the PTSD total score at the time immediately after each confrontation. Posttraumatic avoidance evinced the largest difference observed. At the set time measurement after 12 months, there were no longer significant differences between the group confronting a trauma or those confronting a trauma-associated stimulus. Discussion The approach to the definition of "re-traumatized," as based on previous studies, could be partly substantiated and supplemented by the studies carried out. All study participants had developed PTSD after confrontation with an initial trauma, a prerequisite for re-traumatization. The pre-post study showed, moreover, that the intrusions after a renewed confrontation relate to the initial trauma. Additionally, the lon- gitudinal study proved that a confrontation with a trauma-associated stimulus can, in the same manner as a trauma, lead to an increase in PTSD symptoms. In this case, the confrontation with a trauma- associated stimulus had more significant effects than the confrontation with a trauma. Regarding the duration of the symptom increase, no definition could be established on the basis of the studies conducted in this dissertation. Since symptoms declined relatively quickly, this concerned a reactualization or reactivation given the duration in terms of the first definition worked out in the first chapter. Future studies are needed to verify whether the specifics of re-traumatization ascertained in this study apply to other trauma populations in order to specify the criterion for the duration of symptom resurgence and, on the basis of other trauma populations, to conclusively define the construct of retraumatization.