Im Rahmen des biopsychosozialen Modells geht man heute allgemein davon aus, dass neurobiologische Faktoren wesentlich zu einer erhöhten Vulnerabilität für Essstörungen und der Aufrechterhaltung solcher Erkrankungen beitragen (Treasure and Campbell, 1994). In der vorliegenden Arbeit werden drei Aspekte der Neurobiologie der Anorexia Nervosa (AN) näher beschrieben. (1) Im Zustand des akuten Untergewichtes sind bei vielen AN Patientinnen sekundäre Hirnveränderungen im Sinne einer zerebralen Atrophie und eines gestörten neuronalen Metabolismus nachweisbar. Diese Veränderungen gehen mit einer verminderten kognitiven Leistungsfähigkeit einher (Kerem and Katzman, 2003). Es ist bisher unklar, ob diese Phänomene durch eine Schädigung oder den Untergang neuronaler und glialer Zellen verursacht werden. Unsere Untersuchungen zu Markern (Ehrlich et al., 2008a; Ehrlich et al., 2009e; Ehrlich et al., 2008c) neuronaler Schädigungs- (GFAP, NSE, S100) und Regenerationsprozesse (BDNF) geben wenig Anhalt für einen massiven Untergang von Nerven- oder Gliazellen als Erklärung für atrophische Hirnveränderungen bei akut untergewichtigen Patientinnen mit AN. Keines der erwähnten Proteine war bei Patientinnen mit akuter AN erhöht. Die wahrscheinlichste Ursache für die (Pseudo-)Atrophie ist eine erniedrigte ZNS-Proteinbiosynthese. Die von uns beobachtete verminderte Korrelation zwischen Alter und Plasma GFAP bei akuter AN und die positive Korrelation von S100B mit der Verfügbarkeit der essentiellen Aminosäure Tryptophan stützen diese Annahme. (2) Eines der wichtigsten Ziele in der modernen psychiatrischen Forschung ist die Suche nach biologischen Markern. Unter den krankheitsspezifischen Biomarkern werden so genannte State- von Trait-Markern differenziert. Unter State-Markern versteht man zustandsabhängige Variablen, die nur während aber nicht vor und/oder nach der Krankheitsepisode nachweisbar sind. Trait-Marker sind hingegen lebenslang beobachtbare Merkmale, die mit einer erhöhten Vulnerabilität für bestimmte Erkrankungen einhergehen. Da es angesichts einer Vielzahl an Malnutritions- assoziierten Veränderungen bei AN besonders wichtig erscheint State- von Trait-Markern zu unterscheiden, beinhaltete das Studiendesign aller beschriebenen Arbeiten eine Untersuchung von AN Patientinnen im akut untergewichtigen Zustand und von ehemaligen, jetzt gewichtrehabilitierten, AN Patientinnen. Unsere Arbeiten zum serotonergen System bei AN ergaben unauffällige Befunde für Patientinnen mit akuter AN (außer Tryptophanspiegel), jedoch deutlich veränderte Parameter bei ehemaligen Patientinnen. Bei diesen waren die kinetischen Parameter der Serotoninaufnahme im Thrombozytenmodell signifikant erhöht (Ehrlich et al., 2009c) und die MAO-B Aktivität signifikant erniedrigt (Ehrlich et al., 2008b). Zusammen mit den Vorbefunden aus Liquor- Studien bzw. Studien mit bildgebenden Verfahren (Kaye, 2008; Kaye et al., 2005) und genetischen Untersuchungen (Gorwood, 2004; Hammer et al., 1990) verdichten sich die Hinweise auf eine Störung des serotonergen Systems als Vulnerabilitätsmarker bei AN. Die dargestellten Ergebnisse sind vereinbar mit der Hypothese eines hyperserotonergen Zustandes bei gewichtsrehabilitierten AN Patientinnen. Allerdings lassen sich auch bei Langzeit-gewichtsrehabilitierten AN die Einflüsse eventuell leicht veränderter Essgewohnheiten nicht ausschließen (Ehrlich et al., 2009d). Die genauen pathophysiologischen Mechanismen der Dysregulation im hochkomplexen serotonergen System bedürfen noch weiterer intensiver Forschung, insbesondere mit bildgebenden Verfahren. Im neuroendokrinen System dagegen ergab sich kein Anhalt für Trait-Marker der AN. Wir untersuchten die epigenetische Regulation und Plasmaspiegel von appetitregulierenden Hormonen bei akuten und ehemaligen AN Patientinnen sowie gesunden jungen Frauen. Es konnten keine Unterschiede in der promoter- spezifischen DNA-Methylierung von POMC (als Proxy von α-MSH, ACTH) gefunden werden. Die Veränderungen der POMC und AGRP Expression waren nur im untergewichtigen Stadium nachweisbar, korrelierten eng mit BMI und Leptin und normalisierten sich bei Genesung (Ehrlich et al., 2010). Überraschenderweise war POMC jedoch im untergewichtigen Zustand erhöht. Dies könnte möglicherweise zur Aufrechterhaltung des Untergewichtes bei akuter AN beitragen und kann im Rahmen der „mixed signalling“ Hypothese verstanden werden (Inui, 2001). (3) Leptin ist ein Hormon, das von Fettzellen synthetisiert und von diesen in den Blutkreislauf sezerniert wird. Der Leptinserumspiegel korreliert mit dem BMI und erlaubt Rückschlüsse auf die Ernährungssituation von essgestörten Patientinnen (Hebebrand et al., 2007). Mutationen im Leptin- bzw. im Leptinrezeptorgen führen zu Hyperphagie, Adipositas und Infertilität (Farooqi and O'Rahilly, 2009). Reduzierte Leptinspiegel signalisieren dem Hypothalamus und weiteren Hormonregelkreisen, sich auf eine potentiell drohende Semistarvation einzustellen (Muller et al., 2009). Unsere Daten zeigen, dass Leptin pleiotrope Wirkungen vermittelt. Erniedrigte Leptinspiegel sind eng mit der für die AN typischen körperlichen Hyperaktivität verbunden (Ehrlich et al., 2009a). Des Weiteren ergeben sich Assoziationen mit depressiven Symptomen und dem Verlust des sexuellen Interesses (Ehrlich et al., 2009b). Unser klinisch-translationaler Ansatz erlaubte es uns, aus Tiermodellen bekannte Phänomene (Exner et al., 2000; Lu et al., 2006; Schneider et al., 2007) in Patienten zu nachzuweisen. Trotzdem in den beschriebenen Arbeiten einzelne Aspekte zur Neurobiologie der Anorexia Nervosa näher beleuchtet werden konnten, ist unser Verständnis von Prädispositionen und den daraus resultierenden psychoneuroendokrinen Veränderungen und sekundären Komplikationen äußerst begrenzt. Die genauen pathophyhsiologischen Mechanismen der Dysregulation in hochkomplexen Regulationssystemen (z.B. serotonerges System, appetitregulierende Hormone) bedürfen noch weiterer intensiver Forschung.
According to the biopsychosocial model of Anorexia Nervosa (AN), neurobiological factors contribute to the vulnerability towards eating disorders and also seem to play a role after the onset of the disorder (Treasure and Campbell, 1994). In this work, I will focus on three important aspects in the neurobiology of AN: (1) In the state of undernutrition, many patients with AN show signs of cortical brain atrophy and an abnormal cerebral metabolism. These changes co-occur with a marked reduction of cognitive abilities (Kerem and Katzman, 2003). To date, it is unclear if these phenomena are due to the damage or death of neuronal or glial cells. In our studies (Ehrlich et al., 2008a; Ehrlich et al., 2009e; Ehrlich et al., 2008c) we investigated markers of neuronal and glial damage (GFAP, NSE, S100) and regeneration (BDNF). Our results do not provide evidence for the death or extensive damage of brain cells. The most likely explanation for the (largely reversible) cortical atrophy is a reduced protein biosynthesis during the state of undernutrition. Statistical relationships between GFAP and age as well S100B and essential amino acids support this hypothesis. (2) The search for reliable biomarkers is one of the most important goals of biological research in psychiatry. In the field of AN it is particularly important to differentiate between state and trait markers. State markers are transient and tied to a specific episode of the disorder (i.e. acute undernutrition) whereas trait markers are stable and may be linked to the predisposition for a specific illness. In order to tease apart state and trait markers all our studies included patients with acute AN and weight-recovered AN patients. Our data from markers of the serotonergic system did not indicate abnormalities in patients with acute AN (except tryptophan plasma concentration) but recovered patients had significantly elevated kinetic parameters (platelet model) for serotonin uptake (Ehrlich et al., 2009c) and a reduced MAO-B activity (Ehrlich et al., 2008b). If interpreted in the light of previous findings from studies in cerebrospinal fluid, using neuroimaging (Kaye, 2008; Kaye et al., 2005) or genetic association techniques (Gorwood, 2004; Hammer et al., 1990) we may assume that abnormalities in the serotonergic system constitute a vulnerability marker for AN. The specific mechanisms of dysregulation in the highly complex serotonergic system warrant additional study. Our neuroendocrinological studies, investigating plasma concentrations and the epigenetic regulation of appetite-regulating peptides, did not provide evidence for trait markers for AN. The promoter-specific DNA-Methylation of POMC (a pre-protein of alpha-MSH and ACTH) was not different between patients with acute AN, recovered patients and healthy controls. Changes in POMC and AGRP expression were observed solely in the group of patients with acute AN, correlated with leptin levels and normalized with weight gain (Ehrlich et al., 2010). Interestingly AGRP and POMC were elevated in the underweight state. Although speculative, this could be interpreted within the framework of the „mixed signalling“ hypothesis (Inui, 2001). (3) Leptin is a hormone which is secreted into the blood stream by fat cells. It regulates hunger, satiety and the adaption to semistarvation, correlates with the BMI and provides information about the nutritional situation of eating-disordered patients. (Hebebrand et al., 2007; Muller et al., 2009). Mutations in the leptin or leptin-receptor gene cause hyperphagia, obesity and infertility (Farooqi and O'Rahilly, 2009). Our data underline the pleiotropic effects of leptin. Reduced leptin levels in underweight AN are closely associated with the typically occurring physical hyperactivity and restlessness in these patients (Ehrlich et al., 2009a). Furthermore, we found associations with depressive symptoms and decreased sexual interests and sexual activity (Ehrlich et al., 2009b). Thus, our clinical-translational approach allowed us to show phenomena known from animal experiments in AN patients. In summary, our studies were able to shed light on single aspects of the neurobiology of AN. However, we are well aware that the predisposition to AN and the neuroendocrine changes and complication associated with AN are still poorly understood. Future studies are needed to clarify the molecular and systems neuroscience basis of the complex pathophysiology of AN.