Kann der demokratische Rechtsstaat die von ihm benötigte gesellschaftliche Solidarität erneuern, nachdem kulturelle und religiöse Welterklärungsmodelle ihre Verbindlichkeit verloren haben? Dieser angesichts der Erosionserscheinungen in den liberalen Demokratien drängenden Frage gehe ich in Auseinandersetzung mit einem der elaboriertesten Modelle für „posttraditionale Sozialintegration“ nach: Jürgen Habermas‘ Demokratietheorie in „Faktizität und Geltung“ (FuG). Ich thematisiere ein scheinbares Dilemma: einerseits geht Habermas von der ethischen Neutralität des demokratischen Rechtsstaats aus – dieser soll ethische Vielfalt ermöglichen, ohne ein partikulares Ethos zu privilegieren. Andererseits ist der Rechtsstaat in FuG auf „demokratische Sittlichkeit“ angewiesen – Albrecht Wellmers Konzept bezeichnet ein durch Eingewöhnung verankertes liberales politisches Ethos. Der demokratische Rechtsstaat muss also ethisch neutral sein und demokratische Sittlichkeit normativ auszeichnen. Daraus folgert Richard Bernstein, dass Habermas die These von der ethischen Neutralität des Rechtsstaats aufgeben muss. Ich rekonstruiere die an Bernsteins Kritik anknüpfende Debatte. Dabei zeige ich, dass der Rechtsstaat – anders als Bernstein glaubt – ein „ethical commitment“ eingehen und dennoch ethisch neutral sein kann, sofern es sich um ein „rational“ und nicht um ein „substantial commitment“ handelt. Rational ist die Auszeichnung der demokratischen Sittlichkeit, wenn diese sich als Voraussetzung für einen gerechten – der Autonomie verpflichteten – Pluralismus herausstellt. Lässt sich dieser Zusammenhang in Habermas‘ sozialintegrativem Modell nachweisen? Ich rekonstruiere ein Gerechtigkeitsdefizit: obwohl demokratisch-sittliche Einstellungen in Habermas‘ Rechtsstaat eine Voraussetzung für Sozialintegration sind, hat dieser keine Möglichkeit, entsprechende Einstellungen zu fördern. Dies führt dazu, dass die liberale politische Sozialisation, die Sozialintegration begünstigt, das Privileg einiger Glücklicher bleibt. Die anderen Individuen müssen sich ihre kulturellen Traditionen selbstständig und gegen den Widerstand ihres sozialen Umfelds aneignen. Um dem Defizit zu begegnen, schlage ich in Anlehnung an Rahel Jaeggis „Kritik von Lebensformen“ vor, ethische Praktiken der öffentlichen Kritik zugänglich zu machen. Auf diesem Weg lassen sich die Emanzipationsbemühungen der nicht demokratisch-sittlich sozialisierten Individuen unterstützen. Damit dieser Beistand nicht folgenlos bleibt, muss berechtigte Lebensformkritik – anders als Jaeggi glaubt – politisch-rechtliche Konsequenzen haben können. Wann eine Lebensformkritik politisch-rechtliche Eingriffe rechtfertigt, wäre an anderer Stelle zu zeigen.