Wie muss eine Gesellschaftstheorie operieren, die zur Überwindung von Herrschaftsverhältnissen beitragen soll? Eine methodische Entscheidung, die bei dieser Frage eine große Rolle spielt, ist die zwischen idealer und nicht-idealer Theorie. Ideale Theorien tendieren aufgrund ihrer Methodik dazu, ideologische Auffassungen der gesellschaftlichen Verhältnisse zu unterstellen, die Herrschaftsverhältnisse theoretisch reproduzieren und meliorative politische Theorie und Praxis daher nicht informieren können. Ich plädiere demgegenüber für eine Form nicht-idealer Theorie, die ihren theoretischen Ausgangspunkt im Standpunkt Beherrschter sucht, d.h. – letztendlich – an die in praktischer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit entwickelten intellektuellen Traditionen beherrschter Gruppen anknüpft und diese kritisch fortführt. Hierfür wird zunächst mit Charles Mills eine Ideologiekritik von John Rawls’ idealer Theorie, v.a. in A Theory of Justice, entwickelt. Konkret wird gezeigt, dass Rawls’ „farbenblinder“ Rassismusbegriff von einer historisch situierten, Weißen, Perspektive ausgeht, wodurch sich das, was er als Vorstellung einer vollkommen gerechten Gesellschaft ausgibt, als Projektion eines Weiß-strukturierten Denkens herausstellt. Ideale Theorie erscheint damit inhaltlich wie programmatisch als Theorie vom ideologischen Standpunkt Herrschender. Eine emanzipatorisch orientierte Sozialphilosophie ist, um der Gefahr zu entgehen, ideologisch zu werden, mit dem Anspruch konfrontiert, sich bewusst auf nicht-idealem theoretischem Boden zu verorten und den Standpunkt kenntlich zu machen, von dem aus Theorie betrieben wird. Nicht-ideale Theorie wird mit Charles Mills als Theorie interpretiert, die vom Standpunkt Beherrschter ausgehen muss, weil dieser eine objektivere Sicht auf die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse verspricht. Um den Prozess der Formulierung des Standpunkts Beherrschter näher zu bestimmen, werden einerseits Ansätze der feministischen Standpunkttheorie (v.a. Nancy Hartsock und Sandra Harding), andererseits einige epistemologische Theoreme Antonio Gramscis diskutiert. Die Formulierung eines kritischen Gruppenstandpunktes ist mit Gramsci nur als kollektiver Prozess, d.h. als Zusammenwirken von Intellektuellen und „Einfachen“ zu denken. Diese Position wird unter Rückgriff auf Celikates’ Konzept rekonstruktiver Kritik ergänzt. Zuletzt wird unter Rückgriff auf die Epistemic-Injustice-Debatte gezeigt, dass die Gleichsetzung von Intellektuellentum und materiellem Privileg problematisch ist und Beherrschte nicht nur auch intellektuelle Funktionen ausüben können, sondern in bestimmten Hinsichten sogar besser dazu geeignet sind als herrschende Subjekte. Dies wird anhand Patricia Hill Collins’ Black Feminist Thought verdeutlicht. Es werden einige formelle Eigenheiten der Wissensproduktionsprozesse einer bestimmten beherrschten Gruppe, nämlich afro-amerikanischer Frauen, dargestellt und in Bezug zu Gramscis Konzeption organisch-intellektueller Tätigkeit gebracht.