Die vorliegende Arbeit behandelt Kleists Verhältnis zu Schiller im Licht des ästhetischen Begriffs der Grazie. Der kunstphilosophische Text "Über das Marionettentheater" steht hier im Vordergrund, wobei Kleist sich darin Inhalte von Schillers ästhetischen Schriften – vor allem "Über Anmut und Würde" – kritisch, aber als Folie seines eigenen ästhetischen Entwurfs aneignet. Beiden Schriftstellern gemeinsam ist dabei die Verwendung des biblischen Sündenfallmotivs als Ausgangspunkt für geschichtsphilosophische, anthropologische und damit verbundene zivilisatorische Fragen. Das Verhältnis zu Schiller bestimmt ein dezidierter Überbietungsgestus im Sinne der antiken aemulatio. Bei der Abgrenzung zu Schiller verliert Kleist jedoch nie die Achtung für sein Werk und bleibt ihm – gerade durch die enge Auseinandersetzung und parodistisch angelegte Unterscheidung – eng verbunden. Somit lässt sich erkennen, dass Kleist zwischen Orientierung und Kritik an Schiller seine künstlerische Identität entwickelt. Mit dieser Voraussetzung kann die Idealismuskritik Kleists erneut in den Blick genommen werden, die sich nicht nur, wie bislang angenommen, an einer ungenauen Kenntnis der Kantischen Philosophie entfacht, sondern – wie hier vermutet wird – gerade an Schiller als genauem Vermittler Kants. Am Beispiel der Dramen "Die Jungfrau von Orleans" (Schiller) und "Penthesilea" sowie "Das Käthchen von Heilbronn" (Kleist) können die beiden Konzepte der Grazie abschließend am dramatischen Werk verglichen werden, unter Berücksichtigung der Unterschiede zwischen Theorie und dramatischer Praxis.
The issue of this work is a comparison of Schiller’s and Kleist’s works with regard to the aesthetic concept of grace. Priority lies therefore on the short aesthetic text "Über das Marionettentheater" in which Kleist refers to Schiller’s aesthetic essais and especially to "Über Anmut und Würde" – critical, yet at the same time taken as backdrop of his own aesthetic work. Both lean onto the biblical motif of the Fall of Man when it comes to questions of philosophy of history, anthropology and civilization. The relation to Schiller can be characterized as a firm expression of surpassing the other author in the meaning of the antique concept of aemulatio. Yet Kleist never loses respect for Schiller’s work. He stays close to Schiller, especially in his often parodistic way of distinction. On one side, his admiration of Schiller’s work can be seen as a form of orientation. On the other side, Kleist finds his own creative identity also through his critical analysis of Schiller’s work. In addition to that, his critical view on idealistic philosophy seems not only to refer to Kant whom he knew only vague, but in the first place – as it is very likely – to Schiller who gave an accurate comment on Kant’s philosophy. Finally, "Die Jungfrau von Orleans" (Schiller) and "Penthesilea", as well as "Das Käthchen von Heilbronn" (Kleist) can be compared with regard to the two concepts of grace, noticing the differences between theory and dramatic practice.