Ziel von Teilprojekt 02 der Forschergruppe Diskursivierungen von Neuem ist die Rekonstruktion konkurrierender Neuerungsansprüche, wie sie gerade im mittelalterlichen Liebesdiskurs in komplexer Verschränkung auftreten und über implizite (allusive, metaphorische, ironische, textperformative) wie explizite Formen der Diskursivierung im Spätmittelalter auch auf andere Text-, Gattungs- und Wissenstraditionen ausstrahlen. Angestrebt ist für das semantisch und epistemisch hochgradig integrative Minnethema ein komparatistisch orientierter Ansatz, der das für die mittelalterliche Epik bereits reich traktierte Forschungsfeld der ‚Retextualisierung’ auf die Lyrik – ihre spezifischen medialen, poetologischen und performativen Bedingungen – überträgt und modifiziert. Der eine Untersuchungsbereich gilt im Kern Walther von der Vogelweide im Kontext deutsch-lateinischer Interferenzen (‚Walther im Kontext’), der andere Autoren des Spätmittelalters aus volkssprachig- lateinischen Mischmilieus. Auf der Basis paradigmatischer Textreihen wird eine genuin lyrische Poetik des niuwen entworfen, vor dem Hintergrund je verschieden (asynchron oder asymmetrisch) reflektierter Formsemantiken, Gattungstraditionen und Wissensdiskurse. Besonderen Aufschluß – so eine Hypothese des Projekts – versprechen dabei performativ selbstwidersprüchliche Prozesse, in denen Novation ausdrücklich in Frage gestellt und doch produziert (oder umgekehrt: programmatisch beschworen und unterlaufen) wird. Dieser Spannung zwischen Neuerungsprogramm und Neuerungspraxis widmet sich das vorliegende Working Paper am Beispiel von Dichtertotenklagen, die eine besonders prägnante Möglichkeit darstellen, implizit und explizit wechselnde Temporalitäten und Axiologien von Novation zu verschränken.