In der Demokratisierungsliteratur wird zunehmend auf die Rolle der Verfassungsgerichte in demokratischen Systemtransformationen hingewiesen. Selten wird die Frage theoretisch expliziert, was es eigentlich heißt, wenn eine Institution in einem gesellschaftlichen Kontext „eine Rolle spielt“. Zudem wird der Begriff der Rolle oftmals synonym mit dem der „Funktion“ verwendet, obwohl beide Begriffe aus sehr unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorietraditionen stammen. Diese Arbeit versucht aus politikwissenschaftlicher und rechtssoziologischer Perspektive, den Rollenbegriff für die Demokratisierungsforschung und die vergleichende Verfassungsgerichtsforschung fruchtbar zu machen. Dabei steht nicht die schon oft diskutierte, normative Frage im Vordergrund, ob und wie stark die Verfassungsgerichte in den Prozess demokratischer Gesetzgebung eingreifen sollen. Stattdessen werden die Debatten über diese Frage als empirischer Kontext von Prozessen der Legitimitätszuschreibung verstanden, in denen die Gerichte als Rollenträger auftreten, die mit verschiedenen Arten von Publikum (Rechtswissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft, internationale Akteure) – hier als Teilöffentlichkeiten bezeichnet – kommunizieren. Angelehnt an die soziologische Rollentheorie und auf der Grundlage des historisch- soziologischen Neoinstitutionalismus wird, in Anschluss an die Max Webersche Theorietradition, ein idealtypisches Untersuchungsraster entwickelt, das an rechtswissenschaftliche Debatten anschlussfähig sein soll: Dieses heuristische Raster will empirische Anknüpfungspunkte dafür geben, ob und inwieweit Verfassungsgerichte als „Hüter“ von vorgegebenen Verfassungsnormen auftreten, wann sie als „Schiedsrichter“ von politischen und gesellschaftlichen Konflikten tätig werden, und wann sie als „Gründer“ die Werte einer rechtlich- politischen Gemeinschaft definieren. Dieser Ansatz wird dann auf zwei Fälle von neugegründeten Verfassungsgerichten in sich demokratisierenden politischen Systemen zur Anwendung gebracht: den Fall des Bundesverfassungsgerichts im postfaschistischen Deutschland (Untersuchungszeitraum: 1952-1961) und den Fall des ungarischen Verfassungsgerichtshofs, der vor dem Hintergrund der postkommunistischen Systemtransformation agierte (Untersuchungszeitraum: 1990-1995). Untersucht werden vor allem hochkontroverse Urteile, ihr gesellschaftlicher Kontext und die Reaktionen der Teilöffentlichkeiten. Ergebnis der Analyse ist, dass die von der Rechtswissenschaft vorrangig postulierte „Hüterrolle“ des Gerichts eher im Verborgenen gespielt wurde. In den meisten Fällen trat das Gericht als Schiedsrichter und Gründer auf. Darauf aufbauend wird die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit bis heute vergleichend analysiert und danach gefragt, wie sich die Teilentmachtung des ungarischen Verfassungsgerichts im Jahr 2010/2011 erklären lässt, die – trotz zahlreicher Konflikte zwischen Bundesverfassungsgericht und Politik – in Deutschland bisher keine Entsprechung gefunden hat
In recent years, democratization research has increasingly emphasized the role of constitutional courts in the transformation of formerly authoritarian countries towards democracy. Only rarely do these studies explore the question of what it means in a socio-political context for an institution to ‘play a role’. In addition, the term ‘role’ is often used synonymously with ‘function’, even though both concepts originate from very different social science traditions. From a socio-legal perspective, this book aims to unearth the potential of role theory for democratization studies and comparative research on constitutional courts. The focus of the study is not the well- known normative question of whether and to what extent courts have the legitimacy to intervene in the democratic process. Instead, the debates surrounding that question are viewed as the empirical context in which processes of attribution of legitimacy take place and in which constitutional courts act as the bearer of roles, communicating with different kinds of audiences (legal academia, politics, civil society, and international actors). Based on sociological role theory and historical-sociological new institutionalism, in the tradition of Max Weber, the book develops an ‘ideal type’ framework of analysis intended to connect with the debates in legal scholarship. This heuristic framework aims to establish empirical points of reference to assess whether and to what extent constitutional courts act as ‘guardians’ of predetermined constitutional rules, manage and decide social and political conflicts as ‘umpires’, or define the values of the legal- political community in the role of ‘founder’. This analytical approach is then applied to two cases of newly-founded constitutional courts in democratizing political systems: the German Federal Constitutional Court in post-fascist Germany during the period 1952-1961, and the Hungarian Constitutional Court in the period of post-Communist transformation between 1990 and 1995. The focus of each case study is the constitutional court’s most highly controversial cases, their socio-political context, and the reactions of the court’s main audiences. The case studies show that the role of ‘guardian’, which according to legal scholarship is the main role of constitutional courts, played mostly in the background. In most cases, the courts acted as umpires or founders. In the light of this finding, the remainder of the study engages in a comparative analysis of the development of the constitutional court system in both countries. It seeks to explain the partial disempowerment of the Hungarian court in 2010-11; a situation that, despite many conflicts between politics and the court, has not been experienced in Germany.