Die vorliegende Dissertation untersucht die Studienstruktur- und IT-Reformen in drei Fachbereichen einer deutschen Universität von 1995 bis 2007 und analysiert sie vor dem Hintergrund der Pfadabhängigkeitstheorie. Während die Pfadtheorie bisher zur Erklärung von Hyperstabilität diente (David 1985, North 1990, Burgelman 2002, Ackermann 2003, Schreyögg et al. 2003, Schäcke 2006, Koch 2007), wird sie hier weiterentwickelt zu einer mechanismenbasierten Theorie organisationaler Wandelprozesse. Damit lassen sich die spezifischen Verläufe organisationaler Reformen verstehen, die gleichzeitig durch Veränderungen und Kontinuitäten gekennzeichnet sind. Theorie: Die Theorie organisationaler Pfade wird formuliert auf Grundlage der Strukturationstheorie, die eine prozessuale Perspektive bietet und strukturellen Zwängen wie auch den Handlungsmöglichkeiten strategischer Akteure gerecht wird (Giddens 1984). Das Konzept des Pfades wird hier auf einzelne organisationale Strukturen bezogen. Konkret werden in der empirischen Studie einzelne formelle Regeln und IT-Systeme als potenzielle Pfade untersucht. Der analytische Fokus richtet sich zum einen auf die Selbstverstärkung dieser Strukturen. Zum anderen können durch diese Perspektivierung auch Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Strukturen – das heißt zwischen potenziellen Pfaden in verschiedenen Bereichen – systematisch erfasst und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den Reformverlauf analysiert werden. Empirisches Setting, Forschungsdesign und Methoden: Untersucht werden die Studienstruktur- und IT-Reformen dreier Fachbereiche einer Universität, die von 1995 bis 2007 im Kontext des europäischen Bologna-Prozesses und der Reinstitutionalisierung des deutschen Hochschulsystems durchgeführt wurden. Eine Untersuchung im universitären Umfeld bietet sich hinsichtlich der Frage nach Wandel und Pfadabhängigkeit besonders an: bis Ende der 1990er Jahre galten die deutschen Hochschulen als reformunfähig; seitdem sind sie jedoch Schauplatz tiefgreifender Veränderungen (Lange 2005). Die empirische Studie folgt einer multiplen Fallstudienstrategie (Yin 1994). Die Reformen eines Fachbereichs werden jeweils in einer eingebetteten Fallstudie untersucht. Untersuchungsgegenstände sind dabei jeweils drei bis vier formelle Regeln sowie die eingesetzte Verwaltungs-IT, die während des Untersuchungszeitraumes von 1995 bis 2007 durch formelle Organisationsentscheidungen reproduziert, verändert, neu geschaffen oder abgeschafft wurden. Die Fallstudien basieren auf 22 problem-zentrierten Interviews (Witzel 2000) mit Akteuren der untersuchten Reformen, auf Felddokumenten sowie auf informellen Gesprächen und teilnehmenden Beobachtungen zu Beginn der Untersuchung. Die Daten werden in zwei Stufen ausgewertet. Zunächst werden die Reformen der Fachbereiche zeitlich und kausal rekonstruiert. Im zweiten Schritt wird eine Temporal Bracketing-Analyse (Langley 1999, Pozzebon und Pinsonneault 2005) durchgeführt, um Selbstverstärkungsmechanismen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Strukturen in den Reformprozessen identifizieren zu können. Für die operative Durchführung dieser Auswertungsstrategie wird ein System sogenannter empirischer Memos sowie eine grafische Systematisierung entwickelt. Ergebnisse: In den untersuchten Fachbereichen werden die Pfadabhängigkeit organisationaler Strukturen und vielfache Selbstverstärkung durch Entscheidungen nachgewiesen. Durch den analytischen Fokus auf Selbstverstärkungsmechanismen und Wechselwirkungen zwischen verschiedenen organisationalen Strukturen können die zeitlichen Abläufe und spezifischen Ergebnisse der untersuchten Reformprozesse weitgehend erklärt werden. Ausgehend von der empirischen Analyse wird die Pfadtheorie um die Konzepte der Pfadkonkurrenz und Pfadinterferenz erweitert. In der Perspektive der Pfadkonkurrenz werden Alternativen zum dominanten Pfad über den gesamten Zeitverlauf in die Analyse einbezogen. Der Handlungsspielraum strategischer Akteure kann so neu bestimmt werden anhand des relativen Momentums alternativer Strukturen. Dabei wird deutlich, dass selbstverstärkende Prozesse – wie in den untersuchten Reformen vorgekommen – unter Umständen auch zu einem erweiterten Handlungsspielraum führen können. Weiterhin erscheint Pfadbruch in dieser Sichtweise als Pfadwechsel. Das impliziert die Kreation eines neuen, alternativen Pfades und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Strategien kompetenter Akteure (Garud und Karnøe 2001, Windeler 2003). Das Konzept der Pfadinterferenz bietet einen Analyserahmen für Wechselwirkungen zwischen Pfaden in verschiedenen Bereichen der Organisation. Hier werden komplementäre und antikomplementäre Beziehungen systematisiert in Hinblick auf ihre stabilisierenden oder destabilisierenden Auswirkungen. Verschiedene Typen von Reformverläufen – Stabilität, disruptiver Wandel, inkrementeller Wandel sowie Entwicklungen, bei denen Veränderungen und Kontinuitäten Hand in Hand gingen – können so erklärt werden. Mit den neuen Konzepten der Pfadkonkurrenz und Pfadinterferenz erfährt die Pfadtheorie eine Weitung: Bisher wurden anhand der Selbstverstärkung eines isoliert betrachteten Pfades Hyperstabilität und stark eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten erklärt. Hingegen betrachtet die hier entwickelte Theorie organisationaler Pfade neben Selbstverstärkungsmechanismen auch Wechselwirkungen zwischen Pfaden. So können spezifische Reformverläufe erklärt werden, die gleichzeitig durch tiefgreifende Veränderungen und hartnäckige Rigiditäten gekennzeichnet sind.
This doctoral thesis examines the study program and IT reforms in three faculties of a German university from 1995 to 2007, and analyses them in the light of path dependence theory. While path theory so far explained hyper- stability (David 1985, North 1990, Burgelman 2002, Ackermann 2003, Schreyögg et al. 2003, Schäcke 2006, Koch 2007), here it is developed towards a mechanism-based theory of organizational change processes. As such, it can explain the specific courses of organizational reforms which are characterized by changes and continuities at the same time. Theory: The theory of organizational paths is formulated on the basis of structuration theory, which provides a processual perspective and accounts both for structural constraints as well as the possibilities of strategic actors (Giddens 1984). The concept of a path is applied here to single organizational structures, in particular, to formal rules and IT systems within an organization. The analytic focus aims at the self-reinforcement of these structures, as well as the dynamic relationships between them. Empirical setting, research design, and methods: The research examines the study program and IT reforms at three faculties of a German university, which have been conducted from 1995 to 2007 in the context of the European Bologna process and the reinstitutionalization of the German higher education system. This field is particularly interesting regarding path dependence and change, as German universities had a reputation of being unable to reform until the late 1990s; since then, however, deep-going reforms have taken place (Lange 2005). The empirical study follows a multiple case study strategy (Yin 1994). The reforms of each faculty are examined as a embedded case study, where three to four formal rules and the administrative IT represent the units of analysis. The case studies are based on problem- centered interviews (Witzel 2000) with actors of the examined reforms, on field documents, and in-field observations. The data are evaluated in two steps: First, the reforms are reconstructed temporally and causally. Second, a temporal bracketing analysis (Langley 1999, Pozzebon and Pinsonneault 2005) is conducted to identify mechanisms of self-reinforcement and the dynamic relationships between different structures of the organization. Results: Path dependence of organizational structures and self-reinforcement through formal decisions can be shown in many cases. To a large extent, mechanisms of self- reinforcement and dynamic relationships between organizational structures can account for the temporal course and the specific outcomes of the observed reforms. Based on the empirical analysis, path theory is extended by the concepts of path competition and path interference. The perspective of path competition highlights the role of alternatives to the dominant path over the whole course of time. This allows for the actors’ scope of action to be reassessed as the relative momentum of alternative paths. It can so be explained why self-reinforcing processes – as has occurred in the examined reforms – can lead to extended scope of action under certain circumstances. Also, path breaking appears as path change in this perspective, which implies the creation of a new path and leads attentions towards the strategies of knowledgeable actors (Garud und Karnøe 2001, Windeler 2003). The concept of path interference provides an analytic frame for dynamic relationships between paths in different realms. Complementary and anti-complementary relationships are systemized regarding their stabilizing or destabilizing effects. Different types of reform course elements – stability, disruptive change, incremental change, and developments in which change and continuity go hand in hand – can be explained. With the new concepts of path competition and path interference, the scope of path theory is extended: In the past, the hyper-stability of a singled-out path was explained through self-reinforcement. The theory of organizational paths developed in this work analyses both mechanisms of self- reinforcement and the relationships between structures of the organization. It can thus explain specific courses of reforms which are characterized by thorough changes and hard rigidities at the same time.