Einleitung Multiple Sklerose (MS), auch Enzephalomyelitis disseminata genannt, ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Sie zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen des jungen Erwachsenenalters. MS ist nicht heilbar, durch die verfügbaren Therapien konnte jedoch die Langzeitprognose deutlich verbessert werden. Neuropathologisch ist die MS durch multifokale (disseminierte) Entmarkungsherde in Gehirn und Rückenmark gekennzeichnet. Lange Zeit herrschte die Ansicht, die Erkrankung betreffe nur die Myelinscheiden und damit die weiße Substanz des ZNS. Neuere Studien belegen jedoch, dass es auch zu einer Schädigung des neuronalen Gewebes, insbesondere der Axone, kommt. Hierbei stand meist das Hirngewebe im Zentrum der Untersuchungen. Die vorliegende Arbeit widmet sich einem zuvor kaum untersuchten Aspekt, nämlich der Schädigung von Nervenzellkörpern im Rückenmark. Methodik Bei einer Post- mortem-Analyse an 9 MS-Patienten und 9 neurologisch gesunden Kontrollpersonen wurden Perikaryen im lumbalen Vorder- und thorakalen Vorder- und Seitenhorn quantifiziert und vermessen. Durch die Verwendung stereologischer Methoden konnten systematische Fehler auf ein Minimum reduziert werden. Im zweiten Teil der Arbeit wurden die spinalen Vorderhornneurone hinsichtlich pathologischer Veränderungen der Neurofilamentphosphorylierung analysiert. Hier umfasste das untersuchte Kollektiv 13 MS-Patienten und 6 teils gesunde, teils von anderen neurologischen Erkrankungen betroffene Kontrollpersonen. Außerdem wurden auch 15 Mäuse mit Experimenteller Autoimmuner Enzephalomyelitis (EAE), einem Tiermodell der MS, sowie 3 gesunde Mäuse als Kontrollen untersucht. Ergebnisse Bei der MS-Gruppe zeigte sich eine signifikant niedrigere Gesamtneuronenzahl von 25 ± 3 % des Durchschnittswerts der Kontrollgruppe. Im lumbalen Bereich wurden die neuronalen Subpopulationen getrennt untersucht, hier zeigte sich eine Reduktion der α-Motoneurone um 48 ± 10 %, der γ-Motoneurone um 81 ± 2 % und der Interneurone um 67 ± 5 %. Mittels immunhistochemischer Methoden wurden bei 61,5 % der MS-Patienten Veränderungen der Neurofilamentphosphorylierung nachgewiesen, die auf eine Schädigung der betroffenen Neuronen hinweisen. Pathologisch phosphorylierte Neurofilamente zeigten sich besonders in chronisch aktiven Stadien und waren in caudalen Rückenmarksbereich stärker ausgeprägt als in rostralen. Weder bei den gesunden Kontrollpersonen noch bei den Negativkontrollen mit anderen neurologischen Erkrankungen zeigten sich diese Veränderungen. Bei der EAE-Studie konnten keine Unterschiede zwischen den erkrankten und den gesunden Mäusen gefunden werden. Schlussfolgerung Die Ergebnisse zeigen, dass auch Perikaryen im Rückenmark von der neuronalen Schädigung bei MS erfasst werden. Dies ist besonders interessant, da die entsprechenden Neuronen des motorischen Systems mit ihren Fortsätzen dem peripheren Nervensystem angehören, das in der Regel bei MS nicht betroffen ist. Hierdurch können z.B. die bei einigen MS-Patienten beschriebenen peripheren Neuropathien erklärt werden. Mögliche Implikationen für neuroprotektive Therapieansätze sind zu prüfen.
Introduction Multiple Sclerosis (MS) is a chronic inflammatory disease of the central nervous system (CNS) and one of the most common neurological diseases among young adults. There is no cure, but the available therapies lead to a remarkable improvement of the long-term prognosis. The neuropathological characteristics of MS are multifocal (disseminated) areas of demyelination in brain and spinal cord. For a long time one assumed that the disease affected only the myelin sheaths, i.e. the white matter of the CNS. However, recent studies show that there is also damage to neuronal tissue, particularly axons. In most cases, these studies focussed on the brain. The work presented here deals with an aspect rarely examined before: damage of spinal cord perikarya. Methods In a post mortem analysis of 9 MS patients and 9 neurologically healthy controls perikarya in the lumbar anterior, thoracic anterior and lateral horns were counted and measured. Using stereological methods the systematic bias was minimized. In part 2, neurons in the spinal anterior horn were analyzed with regard to pathological alterations of neurofilament phosphorylation. 13 MS patients and 6 controls were studied. In addition, 15 mice with Experimental Autoimmune Encephalomyelitis (EAE) and 3 healthy controls were examined. Results In the MS group, a significantly lower total neuronal number was found that equalled 25 ± 3 % of the average of controls. In the lumbar area, the neuronal subpopulations were analyzed separately, showing a reduction of α-motor neurons by 48 ± 10 %, of γ-motor neurons by 81 ± 2 % and of interneurons by 67 ± 5 %. Immunohistochemical methods revealed alterations of neurofilament phosphorylation indicative of damage in the affected neurons in 61,5 % of MS patients. Pathologically phosphorylated neurofilaments were noted particularly in chronic active stages and were more prominent in distal areas of the spinal cord than in proximal ones. Neither in healthy controls nor in controls with other neurological diseases these changes became apparent. In the EAE study, no differences between affected animals and healthy controls were found. Discussion The results show that spinal perikarya are affected by neuronal damage in MS. This is particularly interesting because the respective motor neurons with their axons are part of the peripheral nervous system, which usually remains uninvolved in MS. This finding may explain e.g. the peripheral neuropathies described in some MS patients. Possible implications for neuroprotective therapeutic strategies need to be studied.