Für den Versuch dieser komparatistischen Studie, die Wechselwirkungen zwischen einem der bleibenden und kanonischen Dokumente in der Geschichte unseres philosophischen, literarischen und politischen Bewusstseins (der Antigone des Sophokles) und seinen Interpretationen im Deutschland des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, sind anhand ihres Ideengehalts die Antigonen von Walter Hasenclever, eines der ersten Dramen des deutschen literarischen Expressionismus, und von Bertolt Brecht, ein Beispiel seiner nicht- aristotelischen dramatischen Kunst, besonders einschlägig. In der Dissertation geht es um die Frage danach, wie Walter Hasenclever und Bertolt Brecht den antiken Sophokleischen Antigone-Stoff für die deutsche Gegenwart des frühen und mittleren zwanzigsten Jahrhunderts (1917 bzw. 1948) nutzbar zu machen versuchten, wie und ob der Mythos zur Historie wird. Dabei werden das Sophokleische Original, die expressionistische Deutung Hasenclevers und die nicht-aristotelische Dichtung Brechts nicht nur auf der Basis ihrer äußeren und inneren Formenwelt miteinander verglichen, sondern auch bezüglich ihrer zugrunde liegenden Philosophie und ihres Gedankeninhalts. Ein derartiger direkter Vergleich zwischen diesen drei Fassungen beabsichtigt, die Annäherung der Bearbeiter an das Phänomen Antigone aus einer modernen Blickrichtung zu durchleuchten und schließlich ihre neuen Intentionen bzw. die Politisierung der religiösen (oder religiös motivierten) ethischen Momente der antiken attischen Tragödie herauszuarbeiten. Hier die Verkündung der Gebote des christlichen Liebesevangeliums gegen Krieg und Gewaltherrschaft (W. Hasenclever) und die Elimination des Schicksalsglaubens bzw. das Vergnügen an rationalem Denken, Kritik und Lernen (B. Brecht), da die religiös-ethische Tüchtigkeit des Menschen im Sinne der Achtung vor den άγραφοι νόμοι und die Vorstellung, dass menschliche Freiheit dadurch geehrt wird, dass der tragische Held gegen die Übermacht der Moira kämpft.
The Antigone story, timeless in its impact and relevance, has been used by many twentieth century playwrights in an attempt to set an ancient theme in a viable contemporary form. The passage of Hölderlin s political notions into the contemporary German consciousness suffused itself through two other interpretations of major significance, in the early years of the century. Walter Hasenclever (1890-1940) and Bertolt Brecht (1898-1956) offered variations on the Antigone story which focus upon the dilemma projected by Hitler for Germany itself. Hasenclever s expressionistic play Antigone (1917) and Brecht s anti-Aristotelian drama Die Antigone des Sophokles (1948) are products of the transitional age in which these artists flourished. In these modern Antigone plays, the conflict between earthly and divine law extends itself to the contemporary consciousness in the form of struggles between collective and individual responsibility and the religious motivated ethic moments of the Sophoclean tragedy are distinctively politicized. The morality of love versus that of power, truth against falsehood, and finally the dialectic of peace and war, are intertwined. The proclamation of the commandments of the Christian Gospel against war and tyranny (W. Hasenclever) and the elimination of the belief in fate and the pleasure in criticism and rational thinking (B. Brecht) replace the ancient notion, that human freedom can be achieved through the fight of the tragic hero against the superior forces of Moira.