Das Ziel dieser Dissertation ist es, am Beispiel der international bekannten spanisch-katalanischen Performancegruppe La Fura dels Baus und ihrer neunten Produktion IMPERIUM in der sogenannten lenguaje furero aus dem Jahr 2007 den kollektiven Inszenierungsprozess zu untersuchen. Die charakteristische Ästhetik der Gruppe basiert auf physisch-akrobatischen Aktionen, spielt mit Gewalt- und Aggressionspotenzialen und experimentiert mit der direkten Zusammenführung von Zuschauern und Akteuren in klaustrophobischen Situationen. Sowohl die Erforschung von La Fura dels Baus und der lenguaje furero als auch des Entstehungsprozesses einer Inszenierung hat in der Theaterwissenschaft bisher relativ wenig Beachtung erhalten. Diesem Desiderat nimmt sich die vorliegende Studie an. Als externe Beobachterin habe ich die organisatorische wie künstlerische Vorbereitungszeit, das dreitägige Casting sowie den siebenwöchigen Probenprozess begleitet und mit Videokamera und Tagebuchnotizen dokumentiert. Auf der Grundlage dieses Materials wurde eine Analyse der täglichen Praktiken und Erfahrungen der Künstler hinter den Kulissen vorgenommen. Der Fokus lag hierbei stets auf der Interaktion zwischen den zwei Regisseuren – La Fura dels Baus’ Mitglied Jürgen Müller und Lluís Fusté, einem speziell für dieses Projekt engagierten Dramaturgen – und dem aus acht Akteurinnen bestehenden Ensemble. Der Prolog der Studie umfasst einen kurzen Einblick in die erste sowie letzte Begegnung mit der Inszenierung von IMPERIUM. Er umschließt damit die für den spezifischen kreativen Prozess bedeutende Zeitspanne. Die Einleitung gibt dagegen einen generellen Überblick über den Forschungsbereich des Inszenierungsprozesses in der Theaterwissenschaft, skizziert den theoretischen Rahmen und legt das methodische Vorgehen der Probenbeobachtung dar, für das sich hauptsächlich auf ethnographische Ansätze der teilnehmenden Feldforschung berufen wird. Der nächste Abschnitt beschäftigt sich mit der Konzeptions- und Vorbereitungsphase der Künstler. Der Fokus liegt dabei auf den organisatorischen wie künstlerischen Aktivitäten, die vor Beginn des Probenprozesses erledigt werden. Dazu zählen vor allem die Skripterstellung und die Durchführung eines Castingprozesses. Es wird argumentiert, dass der Castingprozess eine Art Vorbote des Probenprozesses ist und eine wichtige Stellung im kreativen Prozess der Gruppe einnimmt. Die zentralen Übungen und Aufgaben werden detailliert herausgearbeitet und das komplexe Auswahlverfahren der Regie über die acht Teilnehmerinnen und die zur Aufnahme ausschlaggebenden Auswahlkriterien kritisch analysiert. In den darauffolgenden Kapiteln, den Ausführungen zur Proben- und Schwellenphase, kommt es zur ausführlichen Untersuchung des kollektiven Probenprozesses. Die Gruppe versammelt sich Anfang März 2007 in einer Industriehalle in der katalanischen Kleinstadt Martorell und beginnt die Arbeit an IMPERIUM. Durch die kontinuierliche Verflechtung von deskriptiven wie analytischen Beiträgen in chronologischer Reihenfolge verfolgt die Studie das tägliche Probengeschehen der zehn Künstler. Sowohl die zur Anwendung kommenden Arbeitsmethoden, Probenverfahren und spezifischen Rituale werden hervorgehoben und im Kontext der lenguaje furero analysiert, als auch die auftretenden zwischenmenschlichen Konflikte und unerwarteten Ereignisse, welche die Entwicklung der Inszenierung gleichermaßen beeinflussen. Folgende Fragen sind dabei von Belang: Welche Routine lässt sich auf den Proben von La Fura dels Baus feststellen? Woher beziehen die Künstler ihre Inspirationen? Auf welche Probleme stoßen sie in der performativen Hervorbringung ihrer Ideen? Welche Aspekte im Training sind zentral für diese charakteristische Ästhetik? Die Studie beschränkt sich ausschließlich auf die sich aus dem Prozess ergebenden Fragestellungen, erstellt damit allerdings gleichzeitig einen systematischen Überblick über die wichtigsten Komponenten dieses individuellen Inszenierungsprozesses. Sie zeigt auf, dass La Fura dels Baus einerseits übliche Proben-Methoden verwendet, wie Improvisationen, Feedbackrunden, Gesamtdurchläufe und öffentliche Generalproben, andererseits zu härteren Maßnahmen greift und außergewöhnlich extreme Übungen einsetzt, wie das Lehmritual „Wurm“ zu Beginn oder die Spiele „Herr und Hund“ und „Kampfquadrat“ zum Schluss des Probenprozesses, um ihren ästhetischen Vorstellungen und inszenatorischen Zielen näher zu kommen. La Fura dels Baus arbeitet bewusst mit transgressiven Verfahren, welche die Akteurinnen an ihre physischen wie psychischen Grenzen bringen. Dies führt dazu, dass die künstlerische Vorgehensweise dieser Gruppe zum Teil kontrovers erscheint. Der Epilog beschließt die Arbeit mit einer Rekapitulation der gesammelten Erfahrungen sowie einem Ausblick auf potenziell neue Untersuchungsbereiche innerhalb der Analyse des kollektiven Prozesses im Theater – sowohl im Rahmen der Gruppe La Fura dels Baus selbst als auch im Vergleich mit anderen Theaterpraktikern, unterschiedlichen Genres und Kulturen. Ebenfalls wird darüber nachgedacht, inwiefern beide kreative Phasen – die Inszenierungs- und Aufführungsphase – als mögliche Fortsetzung der Studie theoretisch zusammengeführt werden könnten. Der Umfang denkbarer Analysefelder der Theorie des Performativen würde sich dadurch um ein Vielfaches erweitern.
This thesis aims to explore questions of collective theatrical processes through a case study of the Spanish-Catalan performance company La Fura dels Baus’s staging of IMPERIUM in the year 2007 – their ninth production in the so-called lenguaje furero, the group’s characteristic aesthetical language that combines physical action and violence, bringing together actors and spectators in claustrophobic situations. The study regards the artistic process as well as the “Furan language” as prominent aspects of both which have received little critical attention in theatre and performance studies to date. The project has one encompassing aim: to analyze the day-to-day practices and experiences of the artistic process for the practitioners in the particular context of the “Furan” aesthetics. Equipped with a notebook and a video camera I took part as an academic observer in the preliminary development, the three-day-casting program as well as the seven weeks long rehearsal process of IMPERIUM and focused my observation and documentation on the interactions unfolding between the two directors – La Fura dels Baus member Jürgen Müller and Lluís Fusté, an external dramaturge and director specifically contracted for the production – and the cast of eight actresses. On the basis of this material a thorough examination of the processes behind the scenes is carried out. The prologue of the thesis presents a brief insight into one of my first and last encounters with the production, enclosing the span of time that is relevant in the study of the creative process at hand. The general introduction attempts to define a conceptual and contextual setting. It outlines the subject of the production process in theatre and performance studies, constitutes the theoretical framework from which it evolves and clarifies the applied methodology for the rehearsal research, drawn largely from (critical) ethnography. The chapter on the “preparation phase” examines the early organizational and artistic steps undertaken by the artists. It discusses procedures such as the creation of a script (guión) and the selection of the cast. It is argued that the casting process as a forerunner of the rehearsal process presents a micro-world in which some of the most important artistic decisions of the production are made. The different exercises and challenges put forward by La Fura dels Baus are therefore analyzed and the complex process of the directors’ decision-making – who of the sixteen participants will be selected for IMPERIUM – is described in great detail and its assessment criteria critically discussed. After the prearrangements I turn to the rehearsal analysis proper, and begin with the examination of the everyday activities. By a continuous interweaving of descriptive and analytical passages the study introduces the most significant events of the rehearsal process. Working methods, artistic practices, transitions and special rituals are scrutinized as well as social encounters, unexpected incidents, and interpersonal conflicts that equally determine the development of the rehearsals and the outcome of the staging. What constitutes their daily rehearsal routine? From where do the artists draw their inspiration? Where do they meet problems in the performative manifestation of ideas? Which aspects are essential in the training of the lenguaje furero? The study centers solely on questions that stem from the observations within the process itself, hereby creating a systematic overview of the different components that constitute this very process. It shows that on the one hand the group applies common rehearsal methods, such as improvisation, feedback rounds, run-throughs and public showings with an audience, on the other hand uses remarkably extreme exercises to achieve their artistic aims and visions, such as the mud ritual called “worm” (gusano) and the games of “dog/ owner” (perro y dueño) and “fight square” (cuadrado de lucha). La Fura dels Baus consciously works with transgression of limits, turning their rehearsal into a controversial affair. The epilogue concludes with a retrospection and summary of the experiences gained during the process and an outlook of how to expand the study of collective artistic processes both in the context of La Fura dels Baus and in comparison with other theatre practitioners, genres, and cultures. It also ponders about the possibility of merging the analysis of the creative process and the staging of the same performance as a challenging continuation of the work – bringing together both phases that form the theatrical process as a whole and thereby broadening the scope of critical approaches towards the performativity of theatre.