Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist es, zwei medizintheoretische Konzepte auf ihre jeweiligen Anwendungsmöglichkeiten im Bereich der Psychiatrie und Psychosomatik hin zu untersuchen. Ausgewählt wurden der salutogenetische Ansatz des Soziologen Aaron Antonovsky und das phänomenologisch- anthropologische Konzept des Psychiaters Erwin Walter Maximilian Straus. Sowohl Antonovsky als auch Straus haben für die Psychiatrie und Psychosomatik wichtige Arbeit geleistet: Erstens, da sie begriffliche Grundlagen, Methoden und Arbeitsweisen der Fächer aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven beleuchteten und kritisch hinterfragten. Zweitens, da ihr therapeutisches Herangehen auch heute noch überall dort eine Leitorientierung bietet, wo Krankheit bekämpft und Gesundheit gefördert werden soll. In der vorliegenden Arbeit wurden ihre Konzepte eingehend untersucht und vor dem Hintergrund ihres Krankheits- und Gesundheitsbegriffes diskutiert. Die Analyse gliedert sich in drei Teile: Nach der Einleitung (Kapitel 1) und der Vorstellung der Methodik (Kapitel 2) werden im ersten Teil (Kapitel 3 und 4) die zwei Theorien deskriptiv dargestellt. Überdies wird Bezug genommen auf die lebens- und zeitgeschichtlichen Verflechtungen beider Wissenschaftler. Bei Straus ist dieser Blick intensiver als bei Antonovsky, da das Leben und Werk des Psychiaters in der heutigen Psychiatrie und Psychosomatik weitaus weniger bekannt ist als das des Soziologen. Die biographische Darstellung seiner Person und die kritische Analyse seiner wissenschaftlichen Texte sind ein wesentlicher Schwerpunkt dieser Arbeit. Im Vorfeld wurden sowohl schriftliche Dokumente und Bildmaterial als auch mündliche Berichte aus 15 Interviewgesprächen mit Medizinern, Psychologen, Philosophen, Soziologen und Historikern aus Europa und Nordamerika untersucht und aufeinander bezogen, so dass auf diese Weise ein umfassender Einblick in das Leben und Werk von Straus gewonnen werden konnte. Im zweiten Teil der Analyse (Kapitel 5) werden wesentliche Prinzipien beider Konzepte auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht. Ihre Kernaussagen können aufgrund disziplinär bedingter Differenzen in Methodik und sachlicher Fragestellung nach Ansicht d. Verf. nur teilweise in Übereinstimmung gebracht werden. Dennoch konvergieren sie in dem Bemühen, Gesundheit und Krankheit in Abhängigkeit von biologischen, körperlichen und psychischen Voraussetzungen sowie von sozialen und gesellschaftlichen Einflüssen zu betrachten. Weder Antonovsky noch Straus geben in ihren Werken eine explizite Definition von Gesundheit. Beide Wissenschaftler favorisieren ein mehrdimensionales Gesundheitsverständnis, das neben einem Freisein von körperlichen Beschwerden auch Leistungsfähigkeit, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung und Sinnfindung berücksichtigt. Gesundheit ist für sie abhängig vom individuellen Umgang mit Belastungen, Risiken und Gefahren im sozialen Kontext. Antonovsky wagt sich dabei noch etwas weiter vor als Straus: Auf der Basis eines systemtheoretischen Ansatzes geht er nicht nur von einer multifaktoriellen Ätiologie, sondern von multiplen Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Determinanten aus. Mit seiner These von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum belebt er die Diskussion um den Krankheits- und Gesundheitsbegriff maßgeblich. Durch seine starke Ressourcenorientierung hebt er sich wesentlich von der kurativen Medizin ab und stärkt sowohl die verhaltens- als auch die verhältnisorientierte Prävention. Stattdessen bleibt Straus vorwiegend dem pathogenetischen Gesundheitsverständnis verpflichtet und konzentriert sich vornehmlich auf die Entwicklung von kurativen Behandlungsansätzen. Im dritten Teil der Arbeit (Kapitel 6 und 7) wird der Frage nachgegangen, welche Folgerungen sich aus den Erkenntnissen von Antonovsky und Straus für die klinische und wissenschaftliche Arbeit eines Psychiaters und Psychosomatikers ableiten lassen. Das Fazit lautet: Beiden Modellen wird in der Prävention und Bewältigung von Krankheiten ein hoher Stellenwert zuerkannt. Sie beinhalten gegenüber einem rein empirisch-kausalanalytischen Vorgehen wesentliche Fortschritte. Die phänomenologisch-anthropologische Arbeit von Straus führt in erster Linie zu einem besseren Verständnis der subjektiven Erlebensweise des Patienten. Antonovsky liefert wiederum wertvolle Ansätze zur Gesundheitsförderung und Prävention. Hier liegt der Gewinn vor allem in der Identifikation und Stärkung von gesunden Anteilen und Selbstheilungskräften des Patienten. Aus der Analyse ergeben sich zwei wesentliche Schlussfolgerungen: \- Die relevanten Determinanten von Gesundheit und Krankheit lassen sich nicht allein durch quantitative Forschung beantworten. Zu den genuinen Aufgaben psychiatrischer und psychosomatischer Wissenschaft gehören auch problemgeschichtliche und ideologiekritische Untersuchungen, wie sie Antonovsky und Straus beispielhaft vorgenommen haben. Für diesen Wissenschaftszweig resultiert hieraus der klare Auftrag zu einer stärkeren Integration von qualitativer Forschung. \- Psychiatrie und Psychosomatik sind heute in viele verschiedene Einzeldisziplinen aufgefächert, die sich hauptsächlich auf die Entwicklung konkret umsetzbarer neuer Behandlungsmöglichkeiten konzentrieren. Die Vehemenz, mit der diese Entwicklung in der Öffentlichkeit diskutiert wird, zeigt, wie wichtig es ist, hier einen allgemeinen Handlungsrahmen zu schaffen, innerhalb dessen sich Kliniker und Wissenschaftler orientieren können. Hierfür geben Antonovsky und Straus viele nützliche Anregungen.
This dissertation examines two medical-theoretical concepts and their practical uses in psychiatry and psychosomatics. The two concepts selected for this study are: the salutogenetic approach by Aaron Antonovsky, and the phenomenological anthropology concept of Erwin Straus. The author thinks that both models can complement currently dominating empirical and causal- analytical research by important anthropological and resource-oriented assumptions. Both Antonovsky and Straus have had a significant impact on psychiatry and psychosomatic medicine: Firstly, because they examined and challenged conceptual basics and methods of the two fields by looking at them from different theoretical perspectives. Secondly, because even today their therapeutic approach is still widely accepted as an orientation to where diseases should be fought and health should be enhanced. In this thesis the above concepts are examined in detail and discussed with regard to their definitions of disease and health. The analysis consists of three parts: The first part introduces the two theories from a descriptive perspective. Their scientific-theoretical background is clarified, and the individual propositions and the terminology used are described and explained. Furthermore, the author takes a look at the biographical and historical connections between the two scientists. In this connection, Straus is examined more thoroughly than Antonovsky. In today’s psychiatry and psychosomatics much less is known about Straus' life and achievements than about those of the sociologist Antonovsky. The author considers this a disadvantage for this scientific field, as Straus' works contain comprehensive material that can be used to clarify terms like ‚norm’, ‚pathology’, ‚disease’, and ‚health’. His biographical profile and an analysis of his scientific literature form the basis of this thesis. The second part outlines key principles of both concepts and compares their similarities and differences. It is demonstrated that their core conclusions match only partially, which is due to the two scientists’ differing methodologies and approaches and their different academic backgrounds. Despite many differences both of them tend to look at ‚health’ and ‚disease’ in dependence of biological, physical and psychological preconditions and to take social and societal influences into consideration. An analysis of their scientific works reveals that neither Antonovsky nor Straus provide an explicit definition of ‚health’, but instead tend to circumscribe the term. Both scientists preferred a multi-dimensional conception of ‚health’, which, apart from the absence of physical problems, comprises performance, self-development, self-realization, and finding a meaning or purpose. According to them health depends on how people cope with stress, risks and hazards within their social contexts. In this connection, Antonovsky goes a step further than Straus: based on a system-theoretical approach he assumes that there is not only a multi-factorial etiology but that there are multiple interactions between the individual determinants. His theory of a health-disease continuum meant a considerable stimulation of the scientific discussion about the definition of ‚health’ and ‚disease’. His strong resource-oriented approach stands out from established curative medicine and supports both behavior and relation-oriented prevention. Instead, Straus keeps following a definition of ‚health’ that is based on a pathogenetic concept and mainly focuses on the development of curative therapy approaches. The third part of the thesis examines which conclusions can be drawn from Antonovskys and Straus’ findings, and what impact they may have on the scientific work of psychiatrists and practitioners of psychosomatic medicine. The result of this discourse is: both models are equally important for preventing and coping with diseases. They are a considerable progress compared with a purely empirical and causal-analytical concept. Straus’ phenomenological anthropology work primarily helps gain a better understanding of a patient’s subjective experiencing. Antonovsky, on the other hand, provides important approaches towards health promotion and prevention. The main benefit lies in the identification and stabilization of healthy parts and the patient’s self-healing power. The author concludes as follows: \- When the terms ‚health’ and ‚disease’ are discussed on a scientific-theoretical and practical basis, it soon becomes obvious that the relevant determinants cannot be answered by quantitative research alone. The genuine responsibilities of psychiatric and psychosomatic science therefore include problem-historical and ideology-critical research, as done exemplarily by Antonovsky and Straus. This branch of science clearly needs a stronger orientation towards qualitative research. \- Today, psychiatry and psychosomatic medicine are divided into a number of individual disciplines, which mainly focus on the development of new and practical treatment methods. The intensity of public debates about this development illustrates how necessary it is to create a framework of general guidelines for clinicians and scientists. Therefore Antonovsky and Straus provide a great deal of useful suggestions.