dc.description.abstract
Soziale Unterstützung aus dem sozialen Netzwerk eines chronisch erkrankten
Menschen kann zu mehr Mobilität, einem besseren Umgang mit der Krankheit und
zu einem gesünderen Lebensstil verhelfen (Uchino, 2009). Interaktionen mit
anderen Menschen rufen jedoch nicht, wie lange in der Erforschung sozialer
Unterstützung angenommen, nur positive Effekte für das Wohlbefinden älterer
und chronisch erkrankter Menschen hervor. Sie können unter Umständen das
Gegenteil bewirken, indem sie die Selbstbestimmtheit einschränken, Konflikte
oder Reaktanz hervorrufen, oder den Selbstwert der Hilfe empfangenden Person
mindern können (Taylor, 2007). Diese Arbeit leistet einen Beitrag zur
Erforschung der Kehrseiten sozialer Unterstützung im Alter und entwickelt
Strategien diese zu vermeiden. Menschen mit mehreren chronischen Erkrankungen
– der so genannten Multimorbidität – sind besonders auf die Hilfe aus ihrer
Umwelt angewiesen, da sie mit höherer Wahrscheinlichkeit gebrechlich und
pflegebedürftig werden. Daher nehmen sie in besonderem Ausmaß soziale
Unterstützung in Anspruch (Marengoni, Von Strauss, Rizzuto, Winblad, &
Fratiglioni, 2009). Allerdings kann zu viel oder ungünstig interpretierte
soziale Unterstützung bei Menschen mit Mehrfacherkrankungen dazu führen, dass
sie sich in ihrer Autonomie eingeschränkt fühlen (Tooth, Hockey, Byles, &
Dobson, 2008). Ziel dieser Arbeit ist es daher, zu untersuchen, welche
sozialen Unterstützungsversuche von multimorbid erkrankten älteren Menschen
wirklich als Unterstützung – also als Ressourcen – und welche
Unterstützungsversuche als Beeinträchtigungen ihrer Gesundheits-
verhaltensweisen, ihrer Lebensqualität und ihrer Autonomie – also als
Risikofaktoren – wahrgenommen werden. Insbesondere untersucht die Arbeit die
Ursachen und Umstände für negative Auswirkungen sozialer Unterstützung. Im
Ausblick werden Strategien erarbeitet, wie soziale Unterstützung von älteren
Menschen mit multiplen Erkrankungen besser akzeptiert und wie negative
Auswirkungen vermieden werden können. Solche Strategien sollen der
Abwärtsspirale der Lebensqualität und Autonomie bei Menschen mit
Mehrfacherkrankungen entgegenwirken, ein selbstbestimmtes Leben erleichtern
und Pflegebedürftigkeit hinauszögern oder mindern. Um Forschungsergebnisse zu
sozialen Unterstützungsprozessen hinreichend interpretieren zu können, sollte
eine differenzierte Perspektive auf die unterschiedlichen Formen der sozialen
Unterstützung eingenommen werden. Daher unterscheidet diese Arbeit zwischen
erhaltener sozialer Unterstützung, also der retrospektiv berichteten
Unterstützung aus Sicht des Empfängers, und erwarteter Unterstützung, die eine
Zielperson glaubt zu bekommen, wenn eine Situation es erforderlich macht
(Berkman & Glass, 2000). Zudem wird bei der Erforschung sozialer Interaktionen
unterschieden, wie viel Unterstützung von der Zielperson geleistet wurde und
in welchem Ausmaß soziale Konflikte auftreten. Weiterhin differenziert die
Arbeit drei Arten der sozialen Unterstützung: a) emotionale Unterstützung (von
anderen getröstet oder aufgeheitert werden), b) informationelle Unterstützung
(Informationen oder Ratschläge erhalten) und c) instrumentelle Unterstützung
(Erhalt von materiellen Gütern oder zeitlichen Ressourcen). Zudem kann soziale
Unterstützung allgemein erhoben werden, z.B. als generelle Aufmunterung, oder
spezifisch, wie etwa Unterstützung zum Umgang mit einer bestimmten Krankheit
oder zum Aufbau eines gesunden Lebensstils. Während soziale Unterstützung zu
erwarten und zu leisten sich als konstant positiv für das Wohlergehen älterer
und chronisch erkrankter Menschen herausgestellt haben (Brummett, et al.,
2005; Schwartz & Sendor, 1999), berichtet die Forschung zur erhaltenen
Unterstützung immer wieder inkonsistente Befunde. So finden manche Studien,
dass erhaltene Unterstützung das Risiko für depressive Symptome senkt, die
Lebensqualität nach Operationen erhöht und das Selbstmanagement bei
chronischen Krankheiten fördert (DiMatteo, 2004; Schröder, 1997). Andere
Studien berichten keine Effekte erhaltener Unterstützung (Schreurs, De Ridder,
& Bensing, 2000; Seeman, Bruce, & McAvay, 1996), und wieder andere Studien
berichten, dass erhaltene Unterstützung bei chronisch Erkrankten Gefühle der
Hilflosigkeit, depressive Symptome und körperliche Einschränkungen hervorruft
und verstärkt (Bisschop, Kriegsman, Beekman, & Deeg, 2004; Von Bergen, Soper,
Rosenthal, Cox, & Fullerton, 1999). Vor dem Hintergrund der inkonsistenten
Befundlage zur Auswirkung erhaltener sozialer Unterstützung widmet sich diese
Arbeit daher folgenden übergeordneten Fragen: 1) Ist erhaltene soziale
Unterstützung eine Ressource oder ein Risikofaktor für Gesundheitsverhalten,
Lebensqualität und Autonomieempfinden älterer mehrfach erkrankter Menschen? 2)
Unter welchen Umständen ist erhaltene Unterstützung ein Risikofaktor? Können
Unterschiede im Studiendesign (Kapitel 3, 6) oder in der Messung des
Konstrukts (Kapitel 4, 5, 6) die negativen Effekte erklären? Oder ist das
Zusammenspiel erhaltener Unterstützung mit Selbstwert (Kapitel 2),
Selbstwirksamkeit (Kapitel 2, 3, 4, 5) oder sozialem Konflikt (Kapitel 6)
dafür verantwortlich? 3) Unter welchen Umständen ist erhaltene Unterstützung
eine Ressource? Wirkt erhaltene Unterstützung grundsätzlich unterschiedlich
auf verschiedene abhängige Variablen, wie Gesundheitsverhaltensweisen,
Lebensqualität und Autonomie (Kapitel 4, 5, 6)? Und welche Art der sozialen
Unterstützung wird von wem positiv bewertet (Kapitel 3, 4, 5, 6)? Diese Fragen
und ihnen zu Grunde liegende Theorien zur Erklärung der negativen Effekte
erhaltener sozialer Unterstützung wurden in dieser Arbeit systematisch in den
empirischen Kapiteln 2 bis 6 an zwei Stichproben bestehend aus Menschen des
mittleren und höheren Lebensalters mit Mehrfacherkrankung untersucht. Kapitel
1 widmete sich der Frage, wie allgemein erfasste erhaltene im Vergleich zu
erwarteter und geleisteter emotionaler sozialer Unterstützung auf körperliche
und mentale Lebensqualität multimorbid erkrankter Menschen wirkt. Außerdem
wurde untersucht, welche psychologischen Mechanismen den Zusammenhang zwischen
erhaltener, erwarteter und geleisteter Unterstützung und Lebensqualität
erklären können, indem Selbstwert und Kontrollüberzeugungen als simultane
Mediatoren getestet wurden. Kontrollüberzeugungen sind Annahmen eines
Individuums, Ereignisse durch das eigene Verhalten herbeiführen oder
beeinflussen zu können und damit essentiell für die Eigenständigkeit und
Lebensqualität im Alter (Rodin, 1986). Erwartete und geleistete Unterstützung
war, wie angenommen, förderlich für die Lebensqualität. Zudem ließen sich die
Effekte durch eine Verbesserung des Selbstwerts und der Kontrollüberzeugungen
erklären. Nur der Erhalt von Unterstützung zeigte sich in Kapitel 2 nachteilig
für die Lebensqualität mehrfach erkrankter Personen. Da dieser negative Effekt
erhaltener Unterstützung jedoch nicht über eine Verminderung der
Kontrollüberzeugungen und des Selbstwerts vermittelt wurde, konnten weder die
Social Breakdown noch die Failed Individual Coping Theorie bestätigt werden
(Bengtson & Kuypers, 1985; Wethington & Kessler, 1986). Auch konnte auf Grund
des querschnittlichen Designs von Kapitel 2 die Mobilisierungshypothese nicht
widerlegt werden. Diese besagt nämlich, dass erhaltene soziale Unterstützung
nicht an sich negative Effekte hervorruft, sondern die negativen Effekte durch
Stressoren (wie z.B. der Beginn einer Erkrankung oder der Verlust des
Partners) verursacht werden, die als Konsequenz vermehrt soziale Unterstützung
auftreten lassen (Barrera, 1986). Aus diesem Grund wurden in den Folgestudien
dieser Arbeit alternative Erklärungsansätze im Längsschnitt untersucht. In
Kapitel 3 wurde Selbstwirksamkeit (eine Form der Kontrollüberzeugung) als
Moderator in der Beziehung zwischen allgemeiner erhaltener instrumenteller
Unterstützung und Autonomie untersucht. Autonomie wurde hierbei als das
subjektive Empfinden von Entscheidungs- und Handlungsspielräumen erfasst
(Schwarzer, 2008). Der längsschnittliche Zusammenhang zwischen erhaltener
Unterstützung und Autonomie wurde erst durch die Einführung von
Selbstwirksamkeit als Moderator ersichtlich: Entsprechend der
Kompensationshypothese konnten Menschen mit niedriger Selbstwirksamkeit ihre
Autonomie aufrechterhalten, indem sie das Fehlen an Selbstwirksamkeit durch
den Erhalt von sozialer Unterstützung kompensieren (Schröder, 1997). Menschen
mit hoher Selbstwirksamkeit hingegen nahmen mit steigender sozialer
Unterstützung zunehmend Einschränkungen ihrer Autonomie wahr, was die
Interferenzhypothese bestätigte (Schröder, 1997). Nur solche mehrfach
erkrankten Personen, die schon starke Einbußen ihrer personalen Ressourcen
erlitten haben, scheinen demnach ihr Autonomieerleben durch externe Hilfe
aufrechterhalten zu können, d.h. nur sie profitieren von so genannter
selektiver selbstbestimmter Abhängigkeit (Bandura, 1997). Im nächsten Schritt
der Arbeit sollten über die psychologischen Mechanismen hinaus behaviorale
Prozesse, die durch den Erhalt von sozialer Unterstützung ausgelöst werden
können, untersucht werden. In den Kapiteln 4 bis 6 wurde daher die Beziehung
von erhaltener sozialer Unterstützung mit zwei essentiellen
Gesundheitsverhaltensweisen für ältere Menschen mit chronischen Erkrankungen
analysiert – körperliche Bewegung und regelmäßige Einnahme verschriebener
Medikamente, auch Medikamentenadhärenz genannt. In Kapitel 4 wurde untersucht,
wie bewegungsspezifisch erfasste Selbstwirksamkeit und bewegungsspezifisch
erfasste soziale Unterstützung auf die Bewegungshäufigkeit älterer mehrfach
erkrankter Menschen wirken. Im Gegensatz zu Kapitel 3, aber in Einklang mit
früheren Studien zur körperlichen Aktivität (Dishman, Saunders, Motl, Dowda, &
Pate, 2009), ergaben die Ergebnisse aus Kapitel 4 einen additiven und keinen
kompensatorischen oder interferierenden Effekt beider Ressourcen auf
Bewegungsverhalten: Diejenigen Personen, die sich am häufigsten körperlich
bewegten, berichteten hohe Maße an sozialer Unterstützung und hohe
Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, regelmäßig körperlich aktiv sein zu können.
Erhaltene Unterstützung hatte in Kapitel 4 also einen positiven Effekt. Da
sich bewegungsspezifische Selbstwirksamkeit als besonders wichtige Ressource
für das Bewegungsverhalten älterer Menschen erwiesen hat, wurde in Kapitel 5
analysiert, ob soziale Ressourcen für den Aufbau von Selbstwirksamkeit genutzt
werden. Es zeigte sich, dass ältere mehrfach erkrankte Menschen tatsächlich
davon profitieren, einen oder mehrere Sportpartner zu haben, die als
Verhaltensmodelle fungieren. Dahingegen hingen Überredungsversuche weder mit
der Selbstwirksamkeit noch mit dem Bewegungsverhalten positiv zusammen. Beide
Ergebnisse stehen in Einklang mit der Selbstwirksamkeitstheorie von Bandura
(1997) und einer kürzlich erschienen Meta-Analyse (Ashford, Edmunds, & French,
2010), die berichtet, dass soziale Einflüsse die Selbstwirksamkeit für
körperliche Aktivität beeinflussen können, indem sie Verhaltensmodelle
bereitstellen, nicht aber durch verbale Überzeugungsversuche. Da sich die
Frage stellt, weshalb die ersten beiden Studien dieser Arbeit zu negativen und
die nächsten beiden hauptsächlich zu positiven Effekten erhaltener sozialer
Unterstützung kamen, lag die Erklärung nahe, dass Maße der erhaltenen sozialen
Unterstützung, die passend zur abhängigen Variable erhoben werden (sich z.B.
beide auf ein bestimmtes Gesundheitsverhalten beziehen), eher positive Effekte
hervorbringen als allgemeiner erfasste Unterstützungsmaße. Folglich wurden in
Kapitel 6 die Auswirkungen allgemeiner und verhaltensspezifisch erfasster
erhaltener sozialer Unterstützung auf ein weiteres Gesundheitsverhalten,
Medikamentenadhärenz, untersucht. Während das allgemeine Unterstützungsmaß
nicht mit Medikamentenadhärenz zusammenhing, berichteten Personen bei
vermehrter medikamentenspezifischer Unterstützung abnehmende
Medikamentenadhärenz, sowohl querschnittlich als auch längsschnittlich. Dieser
längsschnittlich gefundene negative Zusammenhang schließt die
Mobilisierungshypothese als Erklärung aus, da diese annimmt, dass negative
Zusammenhänge zwischen erhaltener Unterstützung und abhängigen Variablen
ausschließlich querschnittlich auftreten. Deswegen überprüfte Kapitel 6 als
weiteren Erklärungsansatz für die negativen Effekte erhaltener Unterstützung
eine Interaktion mit sozialem Konflikt (Abbey, Abramis, & Caplan, 1985). Mit
sozialem Konflikt sind dabei negative soziale Interaktionen wie Kritik,
Zurückweisung, oder Missbilligung gemeint. Tatsächlich ließ sich der negative
Effekt erhaltener medikamentenspezifischer Unterstützung auf diejenigen
Personen zurückführen, die gleichzeitig viele soziale Konflikte berichteten.
Die abschließende Diskussion dieser Arbeit in Kapitel 7 kommt daher zu dem
Schluss, dass die negativen Effekte erhaltener sozialer Unterstützung nicht
auf Inkongruenzen in der Messung sozialer Unterstützung und der abhängigen
Variable oder auf die Mobilisierungshypothese zurückzuführen sind, sondern
reale Hindernisse für die Lebensqualität und Autonomie im Alter darstellen.
Diese Arbeit zeigt somit, dass negative oder Null-Effekte erhaltener sozialer
Unterstützung durch ihr Zusammenspiel mit personalen Ressourcen und sozialem
Konflikt erklärt werden können. Zukünftige Forschung zu sozialen Ressourcen
sollte daher versuchen, diese Variablen ebenfalls zu erheben. Um in der Praxis
negative Effekte durch gut gemeinte soziale Unterstützung zu vermeiden, können
folgende Strategien aus dieser Arbeit abgeleitet werden: Auch ältere und
chronisch erkrankte Personen profitieren davon, die erfahrene Unterstützung in
moderatem Ausmaß zu erwidern, da Hilfeleistungen sich positiv auf ihren
Selbstwert und ihre Kontrollüberzeugungen und damit auf ihre Autonomie und
Lebensqualität auswirken (Schwartz & Sendor, 1999). Vor allem aber sollte
soziale Unterstützung auf das Ausgangsniveau an personalen Ressourcen älterer
Menschen mit Mehrfacherkrankungen angepasst sein. Personen, die sich trotz
ihres Gesundheitszustandes noch viel zutrauen, sollten daher aktiv in den
Entscheidungsprozess über Hilfeleistungen einbezogen werden, da sonst die
Gefahr besteht, dass externe Hilfe als Überbehütung oder Kontrolle
wahrgenommen wird, was zu Einschränkungen des Autonomieerlebens und zu
Konflikten führen kann. Als zuträglich hat sich das Konzept der
autonomieunterstützenden Hilfe erwiesen, welches chronisch erkrankten Menschen
Entscheidungsspielräume und Mitspracherecht einräumt, und lediglich geringen
Druck in Richtung vorgegebener Verhaltensweisen ausübt (Williams, Rodin, Ryan,
Grolnick, & Deci, 1998). Die Strategie der autonomieunterstützenden Hilfe
sollte daher Eingang in die informelle und professionelle Versorgung älterer
Menschen mit Mehrfacherkrankungen finden.
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