Diese Arbeit erforscht die Sichtweise von Zeitungen ohne antisemitische Programmatik zur Zeit des Kaiserreichs auf jüdische Transmigranten aus Osteuropa und fragt, welche Konzepte von Nation, Staatsbürgerschaft und sozialer Klasse sich in deren Berichten identifizieren lassen. Auf Basis einer qualitativen Diskursanalyse werden drei Zeitungen unterschiedlicher politischer Ausrichtung analysiert: der linksliberale Anzeiger für das Havelland aus Spandau, das deutsch-jüdische Israelitische Familienblatt und der sozialdemokratische Vorwärts. Die Arbeit betrachtet die Zeit ab den Pogromen im Zarenreich 1881 bis zum Ersten Weltkrieg und fokussiert sich auf Berlin als zentralen Transitpunkt zwischen Osteuropa und den Nordseehäfen.
Methodisch stützt sich die Arbeit auf Benedict Andersons „imagined communities“, Judith Butlers Überlegungen zu „hate speech“ und Helmut Walser Smiths Forschung zur Rolle des Antisemitismus in der Entstehung des deutschen Nationalstaats. Die Arbeit zeigt, dass jede Zeitung die jüdischen Transmigranten als Projektionsfläche für ihr spezifisches Verhältnis zu Nation, Staatsbürgerschaft und sozialen Klassen nutzte: Der Anzeiger verwendete vermeintlich wissenschaftliche Diskurse zu Hygiene und Kultur, um die Migranten als „ungebetene Gäste“ und Gefahr darzustellen, vermied jedoch direkte antisemitische Aussagen, um den Status deutscher Juden nicht zu gefährden. Das Familienblatt sah die Migranten zwar als „Glaubensbrüder“, betonte aber deren kulturelle Fremdheit zu den deutschen Juden, um den eigenen assimilierten Status im Nationalstaat zu verteidigen. Der Vorwärts beschrieb die Transmigranten als „unglückliche Proletarier“ und integrierte sie in die Vorstellung der Klassensolidarität, entwickelte jedoch zunehmend eine ablehnende Haltung, um Ansprüche deutscher Arbeiter an die Bevorzugung durch den Staat abzusichern.
Die Arbeit ergänzt die Forschung, indem sie Nationalitäts- und Klassendiskurse mit kolonialen Perspektiven auf Migration aus Osteuropa verbindet. Sie zeigt, wie gesellschaftliche Gruppen und die ihnen nahe stehenden Medien ihre politischen Rechte im neuen Nationalstaat in Abgrenzung zu jüdischen Transmigranten aushandelten.
This study examines how newspapers without an antisemitic agenda during the German Empire period viewed Jewish transmigrants from Eastern Europe, and investigates which concepts of nation, citizenship, and social class can be identified in their reporting. Based on a qualitative discourse analysis, three newspapers with different political orientations are analysed: the liberal Anzeiger für das Havelland from Spandau, the German-Jewish Israelitisches Familienblatt, and the social democratic Vorwärts. The study covers the period from the pogroms in the Tsarist Empire in 1881 until the First World War, focusing on Berlin as a central transit point between Eastern Europe and the North Sea ports.
Methodologically, the work draws on Benedict Anderson’s “imagined communities”, Judith Butler’s reflections on “hate speech”, and Helmut Walser Smith’s research on the role of antisemitism in the formation of the German nation-state. The study demonstrates that each newspaper used Jewish transmigrants as a projection surface for their specific relationship to nation, citizenship, and social classes: The Anzeiger employed supposedly scientific discourses on hygiene and culture to portray the migrants as “unwelcome guests” and a threat, while avoiding direct antisemitic statements so as not to endanger the status of German Jews. The Familienblatt viewed the migrants as “brothers in faith” but emphasised their cultural foreignness to German Jews in order to defend their own assimilated status within the nation-state. The Vorwärts described the transmigrants as “unfortunate proletarians” and integrated them into the notion of class solidarity, but increasingly developed a rejecting attitude in order to secure German workers’ claims to state support and preferential treatment.
The study contributes to research by connecting discourses of nationality and class with colonial perspectives on migration from Eastern Europe. It shows how social groups and their affiliated media negotiated their political rights in the new nation-state by differentiating themselves from Jewish transmigrants.