In der vorliegenden Arbeit wird die Auswirkung des Persönlichkeitsmerkmals Neigung zum intensiven Nachdenken (NFC) (Cacioppo & Petty, 1982) auf die Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung bei Grundschullehramtsstudierenden untersucht. NFC bildet als stabiles Persönlichkeitsmerkmal ab, wie sich Individuen bezüglich ihres Engagements und ihrer Freude bei aufwändiger gedanklicher Aktivität wie Argumentieren, Informationsaneignung und komplexem Problemlösen unterscheiden (Bless et al., 1994). Mit der Untersuchung eines Persönlichkeitsmerkmals auf die Professionalisierung von Lehrkräften schließt die Arbeit an den Persönlichkeitsansatz der Lehrer:innenbildung an (Mayr, 2016; Rothland, 2021). In einem Mixed-Methods Design aus quantitativer Vor- und qualitativer Nacherhebung nahmen zunächst 294 Grundschullehramtsstudierende einer deutschen Universität an einem bereits validierten Persönlichkeitsfragebogentest zum NFC teil (Preckel, 2014). Zusätzlich zum NFC wurde eine im Rahmen der vorliegenden Arbeit entwickelte Skala zum wissenschaftlichen Interesse im Lehramtsstudium (WIL), weitere etablierte Persönlichkeitsmaße wie die Big-5 (McRae & Costa, 2008), die Selbstwirksamkeitserwartung (Jerusalem & Schwarzer, 1999) und die Abiturnote als etablierter Prädiktor für den Studienerfolg (Haase et al., 2022) erhoben, um den Einfluss des NFCs auf das wissenschaftliche Interesse im Lehramtsstudium (WIL) differenzierend beurteilen zu können.
Die Ergebnisse der Auswertung der Daten der quantitativen Erhebung belegen, dass das Persönlichkeitsmerkmal NFC das wissenschaftliche Interesse im Lehramtsstudium (WIL) besser vorhersagen kann als die anderen verwendeten Prädiktoren.
Um Erkenntnisse zum Einfluss des NFC auf die Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung – im Sinne eines reflexiv-forschungsorientierten Habitus (Fichten, 2017; Helsper, 2021) – bei den Studierenden zu gewinnen, wurden acht Studierende, die sich durch extrem hohe oder niedrige Werte auf der NFC-Skala auszeichnen, zu narrativ-biographischen Interviews eingeladen. Für die Interviews wurden als wesentliche Kategorien das familiäre Aufwachsen, die Bildungsbiographie und – für die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit besonders relevant – das Erleben wissenschaftlicher Anforderungen an der Universität operationalisiert. Die Auswertung der Interviews mit der qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz, 2018) führte zu einer Typologie mit zwei Haupttypen: Typ 1: Offenheit gegenüber der Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung und Typ 2: Ablehnung gegenüber der Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung. Die Ergebnisse der qualitativen Auswertung zeigen, dass bei den untersuchten Fällen die Ausprägung des NFC deutlich die Bildungsbiographie und das Erleben wissenschaftlicher Lernsettings an der Universität beeinflusst. Mit der Ausnahme von zwei Grenzfällen konnten Personen mit hohem NFC eindeutig dem Typ 1: Offenheit gegenüber der Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung und Personen mit niedrigem NFC dem Typ 2: Ablehnung gegenüber der Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung, zugeordnet werden.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit belegen die Relevanz individueller Persönlichkeitsfaktoren für eine erfolgreiche Professionalisierung im Lehramtsstudium. Die Auswertung der quantitativen und qualitativen Daten spricht deutlich dafür, dass das Persönlichkeitsmerkmal Neigung zum intensiven Nachdenken (NFC) wesentlichen Einfluss auf die erfolgreiche Bewältigung wissenschaftlicher Anforderungen im Studium und damit auf die Entwicklung einer wissenschaftlichen Grundhaltung bei Grundschullehramtsstudierenden hat.