Im Zentrum dieser Arbeit steht die Frage: Welche Rolle spielt in China städtischer öffentlicher Raum als soziales Ordnungsmedium? Im Mittelpunkt stehen seine soziale Produktion, In- und Exklusionsmechanismen sowie die Beziehung zwischen staatlichen Idealen und alltäglicher Aneignung in Chinas Reformperiode. Die soziale Produktion öffentlichen Raums als Ordnungsmedium wird hauptsächlich am Beispiel reziproker Handlungsabläufe von staatlichen Akteuren und „Vagabunden“ (Straßenhändler inkl. mobile Wahrsager und Bettler) als unerwünschte Nutzergruppe herausgearbeitet. In Anlehnung an Henri Lefèbvre, Martina Löw u.a. definiere ich für diese Arbeit die soziale Produktion des Raums als kontinuierlichen Prozess der Aneignung/Appropriation durch die (Neu)Ordnung physischer Objekte (inklusive des eigenen Körpers) einerseits und/oder sozialer Bedeutung andererseits. Urbaner öffentlicher Raum meint den „nicht-eingehausten“ Stadtraum, wo die Chance auf ein größeres Publikum und auf Anonymität als dominierendem Merkmal besteht, wie z.B. populäre Straßen, Plätze, Parks, Promenaden etc. Den lokalen Kontext dieser Untersuchung bietet dabei das südchinesische Guangzhou, wo ich von 2010 bis 2014 lebte und meine Feldforschung abschloss. Als Forschungsfragen stellen sich: Welche öffentlichen Räume werden vom „Staat“ und den „Vagabunden“ okkupiert, reguliert, gebaut? Welche strukturellen Mechanismen und diskursiven Motivationen stecken dahinter? Wie okkupieren und formen die untersuchten Nutzergruppen den öffentlichen Raum um? Wie interagieren dabei die jeweiligen Parteien? Welche Konsequenzen hat die Appropriation öffentlichen Raums für die städtische In- und Exklusion der „Vagabunden“ als marginalisierte Nutzer? Welchen Einfluss hat die Reform- und Öffnungspolitik auf die Appropriation der untersuchten Nutzergruppen? In welchem urbanen und historischen Entwicklungskontext steht die heutige soziale Produktion von Guangzhous öffentlichem Raum? Ergebnisse: 1) Entwicklung von Städtebau, -governance und -gesellschaft entlang der Dimension des städtischen öffentlichen Raums in China: Hier sind insbesondere nationalistische Bewegungen der Modernisierung, Zivilisierung und „Spektakularisierung“ des öffentlichen Raums von Bedeutung. Angelehnt an Debord meint Letzteres die (Ab)Lenkung bürgerlicher Aufmerksamkeit und die Herrschaft durch das „Image“. Dabei nimmt öffentlicher Raum eine doppelte Rolle, nach innen und außen, ein. Er fungiert als Medium der staatlichen Darstellung und der Erziehung der Stadtbewohner. Die politische Konnotation und Funktion öffentlichen Raums im städtischen China kommt deutlich zum Vorschein. Im Alltag entwickelt sich die Offenheit bzw. Schließung des öffentlichen Raums entlang der Zonierung und Rhythmisierung öffentlicher Ordnung. Es kommt zu einer Fragmentierung des öffentlichen Raums entlang der Logik wirtschaftlichen Profits und politischen Prestiges. Er entwickelt sich als „Inseln des Spektakels“ die zeitlich und räumlich expandierenden. Das Spektakularisierung des städtischen Raums dehnt sich in den Alltag aus. 2) Prozesse der Exklusion, Strategien und Taktiken der Inklusion marginalisierter Migranten in Guangzhou: Die Frage der städtischen Teilhabe ist eine Frage des Raums. Die Auseinandersetzungen zeigen zwar eine Dominanz, aber keine „Alleinherrschaft“ der staatlichen Akteure. Am Beispiel der Straßenhändler arbeite ich die „Taktiken der Präsenz“ heraus, die zeigen, wie sie sich an die staatliche Raumlogik anpassen, ihr aus dem Weg gehen und sie herausfordern. Mobile Wahrsager verdeutlichen, dass Zugang zum öffentlichen Raum mehr bedeutet als ein bloßes „Sich-im-Raum-befinden“. Sie eignen sich den öffentlichen Raum via Performance an, die auf das umgebende Publikum ausgerichtet ist. Sie zeigen, nicht jede Aktion bedeutet Kontestation, denn sie orientieren sich am historisch gewachsenen Raumerbe, an der Raumkultur, d.h. am sozial akzeptierten Verhalten an den Tempeln, Konsum- und Unterhaltungsgebieten. Bettler zeigen, wie beide Aspekte – staatliche Raumlogik und Raumkultur/-erbe – zusammen wirken. Im Ergebnis verschaffen sie sich Zugang zum öffentlichen Raum durch die Kombination von Entertainment und Darstellung der Authentizität ihres Leids. Die Exklusion der „Vagabunden“ aus dem öffentlichen Raum ist nicht absolut, sondern durch Barrieren der Regulation gekennzeichnet. Um diese zu überwinden, bedarf es vonseiten der „Vagabunden“ wachsender Investitionen – in Mobilität, Flexibilität und Performances. Das heißt, ohne Ressourcen haben diese städtischen Armen kaum Zutritt zum öffentlichen Raum. Dabei ist ihre Rolle für die soziale Produktion nicht marginal: Sie beeinflussen das Vorgehen der staatlichen Akteure, tragen zur Vielfalt des öffentlichen Raums, aber auch zu seiner „Spektakularisierung“ bei. 3) Desiderate des Konzepts des öffentlichen Raums und Lehren aus der chinesischen Empirie: Die soziale Produktion öffentlichen Raums hält eine neue Perspektive bereit, die einige Annahmen zum öffentlichen Raum infrage stellt. Die chinesische Empirie verweist darüber hinaus auf die „Tücken“ des theoretischen Konzepts hin. Dazu gehören vor allem und dessen starke normative Konnotation sowie die Vielfältigkeit der sich überlappenden Perspektiven. Darüber hinaus ergeben sich folgende Lehren, die den „westlichen“ diskursdominanten Annahmen zum öffentlichen Raum entgegenstehen: Öffentlicher Raum ist nicht physisch-räumlich determiniert. Er ist weder räumlich noch zeitlich fix. Öffentlicher Raum ist nicht offen und zugänglich für „Alle“, er war es noch nie – weder in Europa noch in China. Er lässt sich nicht per se über den Besitz in öffentlicher Hand definieren. Daher ist auch die Privatisierung und/oder Kommerzialisierung an sich auch nicht ein Zeichen des Verlusts öffentlichen Raums. Öffentlicher Raum ist ein wichtiges Ordnungsmedium, der die qualitative Dimension von Verstädterung prägt. Die konkreten Öffnungs- und Schließungsmechanismen strukturieren die städtische Gesellschaft. Deshalb steht der öffentliche Raum im Zentrum von Urbanisierung und Urbanität.
This thesis focuses on the question: What role does urban public space play in China as a medium of ordering the social realm? The social production of public space, the mechanisms of inclusion and exclusion, and the relationship between state ideals and everyday appropriation during China's reform period take centre stage. The social production of public space as a medium of ordering is mainly elaborated through the reciprocal relation between state actors and the “undesired” user groups, such as "vagabonds" (street vendors including mobile fortune tellers and beggars). Following Henri Lefèbvre, Martina Löw and others, I define the social production of space as a continuous process of appropriation through the (re)ordering of physical objects (including one's own body) on the one hand and/or social meaning on the other. Urban public space means open (“non-housed”) urban space where anonymity prevails such as popular streets, squares, parks, promenades etc. The Southern city of Guangzhou – where I lived and completed my fieldwork from 2010 to 2014 – serves as local context. The research questions are: Which public spaces are occupied, regulated, built by the "state" and the "vagabonds"? What are structural mechanisms and discursive motivations behind? How do the investigated user groups occupy and reshape public space? How do the respective parties interact? What are the consequences of the appropriation of public space by "vagabonds" in terms of their urban inclusion and exclusion? What influence does the reform and opening policy have on the appropriation of the investigated user groups? How can the current social production of Guangzhou's public space be understood in the context of the city’s historical development? Results: 1) Development of urban planning, governance and society along the dimension of urban public space in China: Nationalist movements of modernisation, civilisation and "spectacularisation" of public space are particularly relevant here. Following Debord, the latter refers to the guidance/distraction of citizens’ attention and the power via image control. In this context, public space plays a double role – an internal and external one. It serves as a medium of representing the state and educating urban citizens. The political connotation and function of public space in urban China is clearly evident. In everyday life, the openness or closure of public space develops along the zones and rhythms of public order. Thus, public space is fragmented along the logic of economic profit and political prestige. It develops as "islands of spectacle" and expands in time and space. The spectacularisation of urban space extends into everyday life. 2) Processes of exclusion, strategies and tactics of inclusion of marginalized migrants in Guangzhou: The question of urban participation is a question of space. The conflicts show a dominance, but not "sole dominance", of state actors. Using the example of the street vendors, I work out the "tactics of presence", which show how they adapt to the state's logic of space, how they avoid it and also how they challenge it. Mobile fortune-tellers make it clear that access to public space means more than just "being present". They appropriate the public space via performance, which is aimed at the surrounding audience. They show that not every action means contestation, because they are oriented towards the historically grown spatial heritage, the spatial culture, i.e. socially accepted behaviour at temples, consumer and entertainment areas. Beggars show how both aspects - state spatial logic and spatial culture/heritage – influence their appropriation of public space. As a result, they mainly get access through being entertaining while displaying the authenticity of their misery. The exclusion of the "vagabonds" from public space is not absolute, but characterised by barriers of regulation. To overcome these, "vagabonds" need to invest increasingly - in mobility, flexibility and performance. In other words, without resources these urban poor have hardly any access to public space. Yet their role in social production is not marginal: they influence the actions of state actors, contribute to the diversity of public space, but also to its "spectacularisation". 3) Theoretical gaps in the concept of public space and lessons from empirical research in China: The social production of public space provides a new perspective that challenges established assumptions about public space. The Chinese empirical example also point to the "pitfalls" of the concept. These include, above all, its strong normative connotation and the diversity of overlapping perspectives. As a result, the following lessons contradict the “Western” discourse-dominant view on public space: Public space is not physically-spatially determined. It is neither spatially nor temporally fixed. Public space is not open and accessible to "everyone", it never has been - neither in Europe nor in China. It cannot be defined per se through public ownership. Therefore privatisation and/or commercialisation per se is not a sign of the loss of public space. Public space is an important medium that shapes the qualitative dimension of urbanisation. The opening and closing mechanisms structure urban society. Therefore, public space stands at the centre of urbanisation and urbanity.