Einleitung: Die Thalassämie gehört zu den häufigsten monogenen Erkrankungen welt-weit. Laut Schätzung von Angastiniotis und Modell sind ca. 4,5% der gesamten Weltbevölkerung Anlageträger für eine Hämoglobinopathie (= Thalassämie-Syndrome oder anomale Hämoglobinvariante) mit heterogener geographischer Verteilung. In Deutschland wird die Trägerschaft von Hämoglobinopathien in der Bevölkerung mit ca. 0,48% als relativ gering eingestuft. Aufgrund der angestiegenen Zuwanderung in den letzten Jahren, insbesondere aus Ländern mit höheren Thalassämie-Prävalenzen, ist ein Anstieg der Thalassämie-Prävalenz in der Bevölkerung Deutschlands zu erwarten. Eine Einschätzung der Entwicklung der Thalassämie-Trägerschaftszahlen kann wichtige Erkenntnisse zur Verbesserung verfügbarer Versorgungsinfrastrukturen, wie z.B. die Einführung eines Screenings auf Hämoglobinopathien im Rahmen der Schwangerschafts-vorsorge, beisteuern. Methodik: In der vorliegenden Dissertation prüfte ich mit Hilfe einer prädiktiven Formel die Blutbilddaten von 35.717 Schwangeren, die in den Jahren 2013 bis 2020 in Berlin entbunden haben, auf eine mögliche Thalassämie-Trägerschaft. Die Auswahl der einge-setzten prädiktiven Formel erfolgte nach einer Vorprüfung in einer Vergleichskohorte. Außerdem analysierte ich die Asyl- und die Zuwanderungszahlen, um ihre Entwicklung in den letzten Jahren zu bestimmen und mögliche Zusammenhänge mit der Entwicklung der geschätzten Thalassämie-Trägerschaft unter den eingeschlossenen Schwangeren zu evaluieren. Ergebnisse: Unter 47 geprüften prädiktiven Formeln zeigte die Ravanbakhsh-Formel Nr. 4 die besten Eigenschaften zum Screening der Blutbilddaten der Schwangeren auf das Vorliegen einer Thalassämie-Trägerschaft. Die mithilfe dieser Formel geschätzte Tha-lassämie-Trägerschaft war in allen untersuchten Jahren deutlich höher als die bisher be-kannte Prävalenz in der Bevölkerung Deutschlands (Spannbreite: 2,4% - 5,1%). Die Da-ten verdeutlichten außerdem einen zeitlich versetzten Anstieg in der geschätzten Tha-lassämie-Trägerschaft unter den Schwangeren nach dem Anstieg der Asylzahlen in den Jahren 2015 und 2016. Die Aufarbeitung der Zuwanderungsdaten aus dem letzten Jahr-zehnt in Zusammenhang mit den Herkunftsländern und deren Prävalenzprofil für die Thalassämie-Syndrome legt eine Trägerschaft-Zunahme in der Bevölkerung Deutsch-lands nahe. Schlussfolgerung: Die vorliegende Dissertation präsentiert die ersten Indizien für eine Zunahme der Thalassämie-Trägerschaft bei schwangeren Frauen in Berlin im Zuge des jüngsten Anstiegs der Einwanderungszahlen. Diese Ergebnisse verdeutlichen die Notwendigkeit von prospektiven Studien zur Entwicklung und Prüfung eines pränatalen Screening-Algorithmus auf Hämoglobinopathien-Trägerschaft im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge. Hierdurch könnte die bisher empfohlene Bestimmung der Hämoglobinkonzentration (Hb) in der aktuellen Mutterschafts-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) durch ein frühes und effizientes Stufendiagnostik-Verfahren ersetzt werden.
Introduction: Thalassemia is one of the most common monogenic diseases worldwide. According to an estimate by Angastiniotis and Modell approximately 4.5% of the world’s population are carrier for a hemoglobinopathy (= thalassemia-syndrome or abnormal hemoglobin variant) with heterogeneous geographical distribution. In Germany, the carrier rate of hemoglobinopathies (0.48%) in the population is relatively low. Due to increased immigration in the recent years especially from countries with higher thalas-semia prevalence, an increase in thalassemia prevalence in the current population of Germany is expected. An estimation of its development can provide important insights into necessary improvements of available care infrastructures for patients with hemoglobinopathies, such as the introduction of a screening for hemoglobinopathies as part of prenatal care. Methods: In this doctoral thesis, blood count data of 35,717 pregnant women who gave birth in Berlin between 2013 and 2020 was screened for the presence of a possible thalassemia trait using a predictive formula. The predictive formula used was selected after preliminary testing in a comparison cohort. In a further step, asylum and immigration data was also analyzed to determine their evolution in recent years and to evaluate possible associations with the development of estimated thalassemia carrier rates among included pregnant women. Results: Among 47 predictive formulas studied, Ravanbakhsh formula No. 4 showed the best characteristics for screening the blood count data of pregnant women. The estimated thalassemia carrier rate using this formula was significantly higher than the previously known prevalence in the German population in all years studied (range: 2.4% - 5.1%). The data also highlighted a temporally offset increase in estimated thalassemia carriers among pregnant women following the increase in asylum numbers in 2015 and 2016. Reappraisal of immigration data from the past decade in relation to countries of origin and their prevalence profile for thalassemia syndromes also suggests an increase in carrier rates in the German population. Conclusion: This doctoral thesis presents the first evidence for a possible increase in thalassemia carrier rates among pregnant women in Berlin in the wake of the recent increase in immigration. These results highlight the need for prospective studies to develop and test a prenatal screening algorithm for hemoglobinopathy carriers in the context of prenatal care. Thus, the currently recommended determination of hemoglobin concentration in the current maternity guidelines of the G-BA (The Federal Joint Committee = Gemeinsamer Bundesausschuss) could be replaced with an early and efficient stepwise diagnostic procedure.