Ist Zusammengehörigkeit auf Worte angewiesen? Bedeutet ein ‚Mehr‘ an Sprachigkeit zugleich ein ‚Mehr‘ an Zugehörigkeit? Diese Studie fragt nach der Bedeutung des Sprechens und Schreibens für die Mitteilung und den Vollzug von Gefühlen der Zugehörigkeit. In Auseinandersetzung mit dem Werk zweier literarischer Gegenwartsautorinnen, Herta Müller und Ilma Rakusa, entwickelt sie das affektpoetologische Programm eines Schreibens im Wi(e)derspruch, das literaturwissenschaftliche Verfahren erstmalig mit Ansätzen der sozialwissenschaftlich grundierten Zugehörigkeitsforschung verbindet und sich an ein interdisziplinär aufgeschlossenes Lesepublikum richtet. Anhand von Romanen, Erzählprosa, Reden, Essays, Poetik‑Vorlesungen, Gesprächen und Interviews der beiden Autorinnen arbeitet sie die je spezifischen Ausprägungen des komplexen Zusammenhangs zwischen Zugehörigkeit und Nicht‑Zugehörigkeit heraus, die sich in geteilten Gefühlen artikulieren und ein Bündel von Thesen belegen: Die Analyse des Schreibens im Widerspruch zeigt erstens auf, dass Zugehörigkeit keineswegs immer mit Wohlgefühlen wie Geborgenheit, Sicherheit, Wärme und Vertrauen assoziiert sein muss und wirkt somit den normativen Tendenzen entgegen, wie sie sowohl in Teilen der interdisziplinären belonging‑Forschung als auch in Teilen der alltäglichen und öffentlichen Rede über Zugehörigkeit vorherrschen. Zweitens macht die Untersuchung deutlich, dass Zugehörigkeit nicht erst durch Migration problematisch wird, sondern ihre dynamische Prozessualität auch und gerade in Kontexten zum Vorschein tritt, die als starr und unbeweglich dargestellt sind. Dieser dynamischen Prozessualität korrespondiert drittens die Bewegung des Schreibens durch verschiedene – schriftliche oder mündliche – Gattungen des Sprechens, die als Orte der Reflexion und Artikulation multipler, prekärer oder ambivalenter Erfahrungen der Zugehörigkeit fungieren und somit Antworten auf die bisher wenig erforschte Frage nach dem Zusammenhang von Zugehörigkeit und Sprache bieten. Die Poetiken der Nicht‑/Zugehörigkeit konstituieren sich als vielstimmige Sprechpoetiken, die immer auch das (Zu‑)Hören involvieren und daher, viertens, dialogische Konzepte von ‚Autorschaft‘ hervorbringen, welche die Unzertrennlichkeit von Leben und Literatur wiederholt und affektiv zur Geltung bringen. Die Untersuchung der Brüche und Widersprüche von Nicht‑/Zugehörigkeit in den Texten Müllers und Rakusas lädt dazu ein, zentrale literaturwissenschaftliche Grundbegriffe wie ‚Autorschaft‘, ‚Gattung‘ und ‚Werk‘ neu zu durchdenken. Sie eröffnet elementare Einsichten in ein vermeintlich selbstverständliches Gefühlsphänomen, das in den mobilen, globalisierten und durch Migration pluralisierten Gesellschaften der Gegenwart vielfältig herausgefordert wird und für das einzelne Individuum von existenzieller Tragweite ist. Die Arbeit zeigt auf, dass gerade die Auseinandersetzung mit literarischen Texten imstande ist, zu einem differenzierten Verständnis von Prozessen affektiver sozialer Verortung beizutragen und gibt damit Impulse für weitere Forschungen im Feld der transkulturellen Zugehörigkeits‑ und Gegenwartsliteraturforschung.