In dieser Habilitationsarbeit wurden Notaufnahmekonsultationen mit besonderem Fokus auf mögliche Interaktionen mit der hausärztlichen Versorgung untersucht. Es werden sechs Publikationen vorgestellt, die aus dem „mixed methods“-Versorgungsforschungsprojekt EMACROSS (Emergency and Acute Care for Respiratory Diseases beyond Sectoral Separation) hervorgegangen sind. Das Projekt war Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Berliner Forschungsnetzwerks EMANet (Emergency and Acute Medicine Network for Health Care Research). Zwei der enthaltenen Publikationen berichten Ergebnisse eines quantitativen Surveys von Notaufnahmepatientinnen und -patienten mit respiratorischen Symptomen, die zum Konsultationszeitpunkt befragt wurden. Zusätzlich wurden Daten aus der Krankenhausdokumentation ausgewertet. In der Kombination beider Datenquellen ergaben sich Informationen über demographische und medizinische Charakteristika, Inanspruchnahme-Motive und die hausärztliche Anbindung. In der ersten Publikation wurde der Fokus auf Patientinnen und Patienten gelegt, die ohne Einweisung und ohne Transport durch Rettungsdienst oder Krankenwagen die Notaufnahme aufgesucht hatten („self-referred walk-in“ SRW). Insgesamt konnten n=185 Patientinnen und Patienten (~39% der Gesamtkohorte von n=472) dieser Gruppe zugeordnet werden. Als Determinanten einer SRW-Konsultation konnten ein jüngeres Alter, ein akademischer Bildungsgrad, das Fehlen einer hausärztlichen Anbindung oder einer chronischen pulmonalen Erkrankung, sowie die Eigenschaften „Migrationshintergrund erster Generation“ bzw. „Tourist/-in“ identifiziert werden. Die wichtigsten berichteten Motive zur Inanspruchnahme waren in den Bereichen symptomassoziierter Leidensdruck und Zugangsschwierigkeiten in der ambulanten Versorgung angesiedelt, Bequemlichkeitsaspekte spielten eine untergeordnete Rolle. In der zweiten quantitativen Publikation wurde eine Subgruppe aus EMACROSS von n=99 Patientinnen und Patienten betrachtet, die mit dem Rettungsdienst in die Notaufnahme verbracht wurden. Es sollte erhoben werden, ob für diese eine alternative hausärztliche Versorgung geeignet gewesen wäre. Determinanten einer Nutzung des Rettungsdienstes waren: Konsultation außerhalb regulärer Sprechzeiten, Vorliegen einer chronischen Lungenerkrankung, Diagnose einer respiratorischen Insuffizienz, Abwesenheit angegebener Konsultationsmotive aus den Themengruppen Zugang und Versorgungsqualität, sowie Abwesenheit eines Migrationshintergrundes. Potenziell für eine Alternativversorgung in Frage kommende Fälle wurden herausgefiltert. Das Umsteuerungspotenzial in eine hausärztliche Versorgung zeigte sich aufgrund der vergleichsweisen hohen Morbidität und Dringlichkeit bei zusätzlich fraglicher Akzeptanz für ein solches Vorgehen als sehr limitiert. Zwei weitere enthaltene Publikationen berichten Ergebnisse qualitativer Interviews mit aus EMACROSS gesampelten Patientinnen und Patienten zu den Themen hausärztliche Anbindung, Notfallempfinden, und Entscheidungskompetenz in Akutsituationen. Es ergaben sich Hinweise darauf, dass die Beziehung zum hausärztlichen Versorger bzw. der Versorgerin für die Befragten eher wenig Einfluss auf die Inanspruchnahme-Entscheidung für die Notaufnahme hatte, und im Vorfeld einer solchen Konsultation nicht selten versucht wurde, im ambulanten Bereich Kontakt zu einer Praxis herzustellen, auch wenn keine dauerhafte hausärztliche Betreuung besteht. Patientinnen und Patienten gaben an, für sich selbst eine tatsächliche Notfallsituation empfunden zu haben, verbunden mit einer kritischen Einschätzung der Kompetenz von Hilfesuchenden, eine solche Situation hinsichtlich ihrer Dringlichkeit adäquat zu beurteilen. Ein weiteres qualitatives Modul der Studie umfasste Interviews mit Hausärztinnen und Hausärzten sowie interdisziplinäre Fokusgruppen mit hausärztlichen, notfallmedizinischen und pneumologischen Versorgerinnen und Versorgern, deren Ergebnisse in zwei weiteren in dieser Habilitationsschrift enthaltenen Arbeiten dargestellt werden. Aus der Befragung des hausärztlichen Samples ergaben sich hier Hinweise auf deren Blick auf Inanspruchnahme-Entscheidungen und auf ihr eigenes Einweisungsverhalten. Es zeigte sich, dass in ärztliche Überlegungen hinsichtlich einer Einweisung häufig über medizinische Aspekte hinausgehende Kriterien wie die soziale und häusliche Situation oder die Verfügbarkeit alternativer ambulanter Angebote einfließen, und dass auch das persönliche Absicherungsbedürfnis des Behandelnden eine Rolle spielt. Von den interviewten Hausärztinnen und Hausärzten wurden bei den Hilfesuchenden ähnliche Motive und Beweggründe gesehen und gegenüber Bequemlichkeitsaspekten in ihrer Bedeutung betont. Die Kompetenzen von Patientinnen und Patienten zur adäquaten Selbstbeurteilung der Akutsituation wurden kritisch gesehen. In den Fokusgruppeninterviews wurden organisatorische Probleme in der ambulanten Versorgung und Defizite bei der Symptomeinordnung seitens der Patientinnen und Patienten ebenfalls prominent thematisiert. In der Zusammenschau der aus dem Forschungsprojekt hervorgegangenen Publikationen ergibt sich bezüglich der betrachteten Gruppe von Patientinnen und Patienten mit Atemwegsbeschwerden, dass diese nicht aus einem unverantwortlichen Komfort- und Anspruchsdenken heraus, sondern überwiegend aufgrund eines tatsächlichen Notfallempfindens die Notaufnahme konsultieren. Ein häufiger zusätzlicher Trigger sind erlebte Zugangshürden in der regulären ambulanten Versorgung. Die Notaufnahme wird als Auffangversorgung genutzt, von Patientinnen und Patienten sowie teilweise auch von ärztlichen Einweisenden. Es besteht offenkundig der Bedarf an einem zusätzlichen oder erweiterten Versorgungsangebot, welches als erstrebenswert empfundene Eigenschaften von Notaufnahmen (wie ständige Erreichbarkeit, unmittelbarer niedrigschwelliger Zugang, sowie erweiterte diagnostische Möglichkeiten) einschließt. Bei insgesamt nicht eindeutiger Evidenz aus internationalen Studien kann derzeit keine sichere Aussage dazu gemacht werden, ob denkbare neue Anlaufstellen (wie Notfallpraxen/-ambulanzen) oder intra- und extraklinische Steuerungsmodelle tatsächlich geeignet sind, Notaufnahmen zu entlasten – sie decken aber gegebenenfalls unabhängig davon einen offensichtlich vorhandenen Versorgungsbedarf. Wissenschaftliche Evaluationen erweiterter Versorgungsangebote für Akutpatientinnen und -patienten erscheinen dringend geboten. Bezüglich des Umsteuerungspotenzials von Rettungsdienstpatientinnen und -patienten weisen die Ergebnisse aus EMACROSS eher darauf hin, dass Zweifel angebracht sind, und die betreffende Gruppe zunächst weitergehend wissenschaftlich untersucht werden sollte.