Die KMK hat diagnostische Kompetenzen als eine der vier zentralen professionsbezogenen Kompetenzen von Lehrkräften herausgestellt, die es bereits im Studium vorzubereiten gilt. Bislang ist das Angebot an evaluierten Interventionen zur Förderung, vor allem in der universitären Ausbildungsphase, allerdings überschaubar. Dabei kann professionelles diagnostisches Vorgehen bereits im Lehramtsstudium vorbereitet werden, indem neben deklarativem Wissen auch prozedurales diagnostisches Wissen gefördert wird (diagnostische Expertise). Die Förderung prozeduralen Wissens ist jedoch mit Herausforderungen verbunden, weil dabei praktische Erfahrungen essentiell sind. In der vorliegenden Arbeit wird die Entwicklung, Erprobung und Evaluation einer fallbasierten Lerngelegenheit vorgestellt, die den Aufbau prozeduralen Wissens von Lehramtsstudierenden unterstützt. Im Rahmen komplexitätsreduzierter, realistischer Fallvignetten wird damit auf einen Diagnoseanlass vorbereitet, der weitreichende Konsequenzen hat: die Feststellung von Lernbesonderheiten. Dieser Diagnoseanlass erfordert sogenannte formelle Diagnosen, die im Rahmen eines regelgeleiteten diagnostischen Prozesses unter Anwendung standardisierter diagnostischer Testverfahren erstellt werden. Zur Vorbereitung auf diese anspruchsvolle Aufgabe üben die Studierenden im Fallinventar die Vergabe von Diagnosevermutungen sowie die Ableitung von pädagogischen Anschlusshandlungen ein. Bei der Bearbeitung des Fallinventars zeigte sich, dass den Studierenden die Ableitung von Anschlusshandlungen noch schwerer fällt als die Vergabe von Diagnosevermutungen. Diese Schwierigkeit konnte dadurch erklärt werden, dass die Studierenden formelle diagnostische Informationen noch nicht systematisch genug nutzten und dass sie ihre Empfehlungen nicht auf Grundlage der Diagnosen vergaben. Die Fähigkeit zur Vergabe von Empfehlungen konnte erfreulicherweise durch die Arbeit mit dem Fallinventar verbessert werden, indem prozedurales Wissen trainiert wurde. In Kombination mit einer aufgabenbasierten Übung konnte andererseits deklaratives Wissen gefördert werden, das die Trefferquoten bei Diagnosevermutungen erhöhte. Außerdem konnten erste affektiv-motivationale Voraussetzungen geschaffen werden, die die Wahrscheinlichkeit diagnostisch kompetenten Verhaltens in der späteren Berufspraxis erhöhen. Um diese Voraussetzungen zu stabilisieren und weiter auszubauen, bedarf es allerdings weiterer Lerngelegenheiten, die eine schrittweise Praxisannäherung im Lehramtsstudium ermöglichen. Die Ergebnisse erweitern die Befundlage zur Förderung diagnostischer Kompetenzen im Lehramtsstudium und haben Implikationen für die Modellierung diagnostischer Kompetenzen, die bislang die Qualität der Anschlusshandlungen unzureichend berücksichtigt.