Die Behandlung von Patienten mit Schwindelsyndromen ist vielschichtig und die Mortalität dieser Patientengruppe im Vergleich zu Nichtbetroffenen erhöht. Neben dem individualmedizinischen Aspekt haben vor allem chronische Schwindelerkrankungen eine überragende epidemiologische, sozialmedizinische und ökonomische Bedeutung. Die in dieser kumulativen Habilitationsschrift zusammengefassten Studien befassen sich mit dem Aspekt der Diagnosefindung bei Patienten mit unklarem chronischen Schwindel und der Epidemiologie der akuten unilateralen peripheren Vestibulopathie. Daneben werden Arbeiten über akuten Schwindel in der Notaufnahme, über zwei unterschiedliche Methoden des mittelohrchirurgischen Vorgehens bei der akuten Ertaubung sowie die prä- und postoperative Schwindelproblematik bei der Cochlear Implantation einbezogen.
Bei „unklarem Schwindel“ steht die korrekte Diagnosestellung immer am Beginn aller therapeutischen Optionen. An 150 Patienten, die im Rahmen eines von uns entwickelten stationären interdisziplinären Konzepts untersucht wurden, konnten wir zeigen, dass „unklarer Schwindel“ selten unklar bleibt. In 94% der Fälle wurde eine Ursache für die oft jahrelangen Beschwerden gefunden. Bei 77% der Patienten fand sich eine weitere und bei 33% mindestens zwei weitere, den Schwindel begründende Diagnosen. Als Hauptdiagnose wurde bei einem Viertel der Patienten eine Neuropathia vestibularis gefunden. Zudem finden sich bei einem Fünftel der Patienten ein funktioneller Schwindel als Hauptdiagnose und mit 63% der Fälle eine erhebliche Prävalenz als Komorbidität (Münst et al. 2021). Chronische Schwindelsyndrome sind überwiegend multifaktoriell bedingt und haben eine weibliche Prädominanz. Häufig sind sie Resultat einer primär nicht ausreichend diagnostisch eingeordneten, peripher-vestibulären Störung und einer unzureichenden zentralen Kompensation. Eine unzureichende Kompensation der primären Störung, z.B. durch Vermeidung von Bewegung kann eine „Chronifizierung“ der Schwindelwahrnehmung zur Folge haben. Eine entsprechende Angstsymptomatik kann sich entwickeln, die dann zur Diagnose eines „Funktionellen Schwindels“ führt. In schwierigen Fällen ist bei Patienten mit chronischen Schwindelsyndromen eine ambulante Abklärung unzureichend und verzögert den Zugang zu einer diagnosespezifischen Therapie. Hier bietet ein stationäres Konzept an einem Zentrum Vorteile, denn neben einer qualitativ hochwertigen apparativen Diagnostik, ist die nicht-zeitversetzte interdisziplinäre Betrachtung des Patienten durch mehrere, bezüglich Schwindelerkrankungen erfahrene Untersucher auch aus anderen Fachgebieten möglich.
Es ist geplant, dass die Möglichkeit bzw. Empfehlung zur stationären Abklärung von chronischen Schwindelerkrankungen sich in der aktuell in der Abschlussphase befindenden S2k-Leitlinie „Vestibuläre Funktionsstörungen“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. wiederfindet. Inwiefern sich durch den Erkenntnisgewinn nach abgeschlossener Diagnostik eine Therapie anschließt, die zu einer objektiv messbaren Verbesserung der Defizite sowie zu einer Steigerung Lebensqualität betroffener Patienten führt, wird Gegenstand weitergehender Untersuchungen sein müssen. Ebenso vermag die vorliegende Arbeit nicht abschließend zu beurteilen, inwiefern durch das Diagnostikkonzept Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen erzielt werden können, zumal es in Deutschland keine umfassende Datenbasis gibt, die eine suffiziente gesundheitsökonomische Gesamtbetrachtung ermöglichen würde.
In Deutschland existiert kein zentrales „Krankheitsregister“, das alle ambulanten und stationären Behandlungsfälle eines Behandlungszeitraumes nicht-redundant einschließt. Die Kombination aus mangelnder zentraler Datenerfassung und einer Krankheitsentität wie z.B. der Neuropathie vestibularis, die je nach Ausprägung von verschiedenen Fachgebieten stationär, ambulant, sekundär oder gelegentlich auch gar nicht behandelt wird, erschwert die Generierung valider epidemiologischer Daten. In der bisherigen Literatur wurden Prävalenzen von 3,6/100.000 (Sekitani et al. 1993) bis 162/100000 (Hülse et al. 2019) angeben. Die zweite in diese Habilitationsschrift einbezogene Arbeit berechnet die Prävalenz der Neuropathia vestibularis über die Auswertung von Daten der Gesundheitsberichtserstattung (die sich auf stationäre Behandlungsfälle bezieht) auf 36,7/100.000 Fälle im Jahr 2017. Ferner konnten wir für den Zeitraum 2000 bis 2017 eine jährliche stationäre Fallzahlsteigerung der Neuropathie vestibularis von durchschnittlich 10% berechnen, während im Vergleich dazu die Steigerung stationärer Fälle gesamthaft lediglich 1% betrug. Der Aufbau nationaler krankheitsbezogener Register würde die Generierung epidemiologischer Daten vereinfachen (von Bernstorff et al. 2021).
Im Vergleich zum chronisch-vestibulären Syndrom wird behauptet, dass sich das akute vestibuläre Syndrom in der Rettungsstelle klarer darstelle und somit einfacher zur diagnostizieren sei. Unsere an 315 Rettungsstellenpatienten durchgeführte Studie zeigt diesbezügliche diagnostische Schwierigkeiten auf. Zwar stehen den Untersuchern neben der Anamnese mit den Bedside-HINTS (HINTS: horizontaler Head-Impuls-Test, Nystagmus, „Test of skew“) bzw. HINTS plus sensitive Untersuchungsmethoden zur Verfügung, allerdings sind diese nicht in allen Fällen eindeutig. Der Videokopfimpulstest (vKIT), der auch verborgene Sakkaden zu erkennen vermag und hier Zusatzinformationen liefern könnte, ist an Rettungsstellen mangels gerätetechnischer Ausstattung nicht flächendeckend verbreitet. Wir berechneten, dass eine „Pseudoneuritis vestibularis“, die einer „maskierten“, ischämiebedingten zentral-vestibulären Störung entspricht und somit potentiell lebensbedrohlich ist, in ca. 2% der Fälle vorkommt. Diese Fehleinschätzung passierte auch dann, wenn der Patient unabhängig vom Neurologen und HNO-Arzt untersucht wurde. Der Zusatznutzen des vKIT in der oben beschriebenen nicht-eindeutigen Situation ist derzeit Gegenstand laufender Untersuchungen. Das diffusionsgewichtete cMRT, das aber nicht allerorts zeitgerecht zur Verfügung steht, bleibt zunächst der aktuelle Goldstandard (Pudszuhn et al 2020).
Schwindel kann als Begleitsymptom bei einer akuten Ertaubung auftreten. In dieser Situation stehen die Differentialdiagnosen Rundfenstermembranruptur bzw. nachrangiger eine „Fissula ante fenestram“ im Raum. Diese Patienten werden als Notfall mit aufgeschobener Dringlichkeit zunächst konservativ mit intravenösen Glucocortikoiden in absteigender Dosierung behandelt. Wenn sich dann innerhalb von Tagen -der genaue Zeitraum ist bisher nicht definiert- nach Ausschluss einer retrocochleären Störung keine Hörverbesserung zeigt, wird die Indikation zur diagnostischen Tympanoskopie gestellt. Bei dieser Operation wird in Glucocortikoidlösung getränktes Bindegewebe zur Abdichtung ins Mittelohr eingebracht. Es ist nachgewiesen, dass die Lösung vom Mittelohr ins Innenohr diffundiert. Die vierte in diese Habilitationsarbeit aufgenommene Studie vergleicht zwei Operationsmethoden: Dabei zeigte sich, dass bezüglich des Hörgewinns die zusätzliche Abdichtung der ovalen Nische im Vergleich zur isolierten Abdichtung der Rundfenstermembran keinen Vorteil bezüglich des Endpunkts Hörgewinn brachte. Retrospektiv zeigte das operative Vorgehen insgesamt keinen eindeutigen Hörgewinn im Vergleich zu den in der Literatur berichteten Spontanheilungsraten auf. Zur weiteren Bewertung bedarf es randomisierter prospektiver Studien, die wegen der Seltenheit des akuten hochgradigen sensorineuralen Schwerhörigkeit multizentrisch geplant werden sollten (Hofmann et al. 2021).
Zur Rehabilitation ertaubter Patienten werden deutschlandweit jährlich ca. 5000 Cochlea-Implantationen durchgeführt. Die Operation, sowie der gesamte Rehabilitationsprozess sind in einem 2018 von der Deutschen Gesellschaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie e.V. herausgegebenen „Weißbuch Cochlea Implantat(CI)-Versorgung“ zusammengetragen worden. Im Hinblick auf bereits angekündigte gesetzliche Entwicklungen („Implantatgesetz“), wurde ein Register sowie ein Zertifizierungsprozess entwickelt, der im Sommer 2021 gestartet werden wird. Die Cochlea-Implantation hat einen signifikanten Einfluss auf das Gleichgewichtsorgan und die Entwicklung von Schwindelsymptomen. Daher ist gemäß „Weißbuch“ sowohl im Kapitel „Präoperative Prozessbeschreibung“ als auch ggf. postoperativ eine Vestibularisdiagnostik vorgesehen. Unsere 2018 publizierte Metaanalyse (Hänsel et al. 2018) zeigt die Altersabhängigkeit des Risikos nach Cochlea-Implantation dauerhaft Schwindelsymptome zu entwickeln. Auch die Operationstechnik scheint das Ergebnis zu beeinflussen. So entwickeln Patienten, die via Rundfensterzugang operiert wurden seltener Schwindel, als Patienten die ihr Cochlear Implantat über eine Cochleostomie erhalten haben. Jüngere Patienten kompensieren nach Cochlear Implantation eine vestibuläre Dysfunktion besser. Die konsequente Durchführung perioperativer und postoperativer apparativer Schwindeluntersuchungen ist erforderlich, um eine postoperative vestibuläre Störung und subjektive Beschwerden besser zu korrelieren. Die Aufnahme der Vestibularisdiagnostik ins Weißbuch stellt, in Kombination mit dem Register, eine gute Ausgangslage nicht nur zur Qualitätssicherung, sondern auch zur weiteren wissenschaftlichen Begleitung dar.