In meiner Arbeit mache ich mir das Streben nach Anerkennung als Leitmotiv für eine systematische Rekonstruktion der Philosophie von John Locke zunutze. Es stellt nicht nur ein zentrales Element von Lockes psychologischer Theorie dar, sondern kann darüber hinaus als Schlüssel zur Deutung der historischen und kulturpessimistischen Partien der Zwei Abhandlungen herangezogen werden. Denn es ist das Verlangen nach Anerkennung, nicht das nach Selbsterhaltung, das in Gestalt von Gier und Herrschsucht zur Ursache sozialer Konflikte avanciert, sobald ihm mit Geld und politischen Institutionen dauerhafte Möglichkeiten zur pathologischen Entfaltung (als Wunsch nach Überlegenheit) zur Verfügung stehen. Das Streben nach Anerkennung ermöglicht zudem ein tieferes Verständnis dafür, wieso Lockes Bemühungen um eine Besserung der sittlichen Verhältnisse nicht nur moralischer, sondern ebenso politischer Natur sind. Denn die konventionalistische Tendenz dieses Verlangens hat zur Folge, dass sowohl das Gesetz der Meinung als auch das bürgerliche Gesetz (zwei für Locke zentrale moralische Regelsets) ihre Kraft zum Besseren einbüßen: Sie richten das Handeln der Menschen – zumal das der Herrschenden – an den korrumpierten Wertmaßstäben des Status Quo aus. Hierdurch wird das Gedankenexperiment des Naturzustands erforderlich, das sich als Lockes Versuch lesen lässt, die pazifizierenden Potenziale des göttlichen Gesetzes in Form einer philosophischen Demonstration auszuloten. Letztere mündet in der Forderung nach einer Schaffung von politischen Institutionen, die eine effektive Befriedung der zuvor erörterten sozialen Konflikte garantieren sollen. Auch dabei spielt das Streben nach Anerkennung eine Rolle. So lässt es sich nicht nur verwenden, um die ideologiekritische Stoßrichtung der Ersten Abhandlung zu erklären; es kann auch zur Interpretation des in der Zweiten Abhandlung erdachten Gemeinwesens fruchtbar gemacht werden: Dieses stellt Lockes Versuch dar, politisch ergiebige, weil gemeinwohlförderliche Institutionen der Anerkennung zu ersinnen. Insbesondere das Konzept des Vertrauens (»trust«) vermag so einer innovativen Neudeutung zugeführt zu werden. Aber auch die anderen sozialen Sphären individueller Autonomie, die im Rahmen der Zweiten Abhandlung vorgesehen sind, lassen eine anerkennungstheoretische Lesart zu. Lockes »Liberalismus« hat mithin eine expressive Dimension, weil Freiheit und Rationalität für ihn anerkennungsfunktionale Güter darstellen.