Über drei Jahrzehnte nach dem Beitritt der DDR zur BRD 1990 ist Deutschland von West/Ost-Ungleichheiten geprägt, wie zum Beispiel die Unterrepräsentation Ostdeutscher in den Eliten in west- wie ostdeutschen Bundesländern zeigt. Sie betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche von Politik, Wirtschaft, Justiz über Medien und Wissenschaft. Der Rückblick auf die Zeit der Wiedervereinigung hilft, aktuelle Machtverhältnisse zu verstehen. Im Bereich der Wissenschaften blieb, wie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen im Osten nach dem Umbruch 1989, nichts so wie es vorher war. Die Begegnung der zwei deutschen Wissenschaftssysteme fand nicht auf Augenhöhe statt. Ein Wissenschaftssystem gehörte zu einem nicht mehr existierenden Staat und wurde dem anderen, das der existierenden Norm entsprach, untergeordnet. Viele wissenschaftliche Karrieren endeten in der Umbruchszeit. Im Rahmen einer ethnographischen Forschung mit Oral History-Bezug untersuchte ich, wie die Wiedervereinigung von Akademiker*innen aus der DDR erinnert wird und welche Auswirkungen der Systembruch auf die wissenschaftlichen Biographien meiner Interviewpartner*innen hatte. Ich führte narrative biographische Interviews mit sechs Akademiker*innen, die in der DDR zu Lateinamerika forschten oder Lateinamerikawissenschaften studierten. Die Evaluationserfahrung ist eine der zentralen Kategorien, die sich aus meiner Analyse ergeben haben. In der Evaluationserfahrung zeigt sich strukturell und individuell, dass Wissen und Wissenschaftler*innen aus der DDR weniger wertgeschätzt wurden als ihre westdeutschen Pendants. Diese Wissenshierarchie zwischen west- und ostdeutschem Wissen war die Grundlage der Nicht-Anerkennung und Nicht-Einbindung von Wissen und Wissenschaft aus der DDR in die vereinigte Bundesrepublik Deutschland. Eine weitere zentrale Kategorie ist die doppelte Sozialisierung/Kulturalisierung, die Menschen aus der DDR durch den Beitritt zur Bundesrepublik und das Leben in zwei unterschiedlichen Systemen erfuhren. Sie als Wissenspotenzial anzuerkennen, ermöglicht, Erinnerungsdiskurse zu erweitern und ostdeutsche Erfahrungen und Perspektiven wertzuschätzen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen außerdem Erinnerungen an den Alltag der Wissenschaftspraxis in der DDR, an die Wendezeit mit ihren Freiräumen und an Diskriminierungserfahrungen im Wissenschaftsbetrieb des wiedervereinigten Deutschlands. Zudem wird ein Einblick gegeben, wie und wo in der DDR wissenschaftlich zu Lateinamerika gearbeitet wurde.
More than three decades after the GDR's accession to the FRG in 1990, Germany is characterized by West/East inequalities, as shown, for example, by the underrepresentation of East Germans in the elites in both West and East German states. It affects all areas of society, from politics, business and the judiciary to the media and academia. A look back at the period of reunification helps to understand current power relations. In the field of science, as in all other areas of society in the East after the upheaval of 1989, nothing remained as it was before. The encounter between the two German science systems did not take place at eye level. One scientific system belonged to a state that no longer existed and was subordinated to the other, which conformed to the existing norm. Many scientific careers ended in this period. Within the framework of ethnographic research with an oral history orientation, I investigated how the reunification was remembered by academics from the GDR and what effects the system change had on the scientific biographies of my interview partners. I conducted narrative biographical interviews with six academics who conducted research on Latin America or studied Latin American studies in the GDR. The evaluation experience is one of the central categories that emerged from my analysis. The evaluation experience shows structurally and individually that knowledge and scholars from the GDR were less valued than their West German counterparts. This hierarchy of knowledge between West and East German knowledge was the basis of the non-recognition and non-inclusion of knowledge and science from the GDR in the unified Federal Republic of Germany. Another central category is the double socialization/culturalization that people from the GDR experienced by joining the Federal Republic and living in two different systems. Recognizing it as a knowledge makes it possible to expand memory discourses and to value East German experiences and perspectives. This work also focuses on memories of everyday scientific practice in the GDR, the Wende period with its opportunities, and experiences of discrimination in the science system of reunified Germany. Furthermore, the evaluation of one's own scientific career is addressed and an insight is given into how and where scientific work on Latin America was carried out in the GDR. In addition, an insight is given into how and where scientific work on Latin America was carried out in the GDR.