Die vorliegende Dissertation behandelt die Sozialisation und Ontogenese von Tao-Kindern auf der zu Taiwan gehörigen Insel Lanyu. In theoretischer Hinsicht basiert sie auf einem Mehrkomponenten-Emotionsmodell (HOLODYNSKI & FRIEDLMEIER 2006), den Vier Universalien der Kindeserziehung (QUINN 2005), dem Konzept der kindlichen Entwicklungsnische (SUPER & HARKNESS 1986) sowie dem Konzept der sozialisierenden Emotionen (FUNK et al. 2012). Während der einjährigen ethnographischen Feldforschung in einer lokalen Dorfgemeinschaft kamen diverse Methoden aus der Sozial- und Kulturanthropologie sowie der Entwicklungspsychologie zum Einsatz. Der Autor behandelt zunächst den soziokulturellen Kontext, ohne den ein Verständnis lokaler Sozialisationspraktiken nicht möglich wäre. Er gewährt Einblicke in die Geschichte Lanyus und beschreibt den dynamischen Charakter der sozialen Organisation, der aus einem Beziehungsgeflecht hierarchischer, egalitärer und antagonistischer Gruppen besteht. Außerdem behandelt er das Haus als einen Fokus auf Verwandtschaft, das Status und Sicherheit generierende System des Nahrungstausches, die lokale Lebenslaufperspektive sowie die mit Altershierarchien und Genderrelationen in Verbindung stehenden sozial-räumlichen Interaktionsmuster. Den kosmologischen Vorstellungen der Tao nähert er sich an, indem er die dichotome Ordnung des Kosmos beschreibt, in der gutartige und bösartige Geistwesen koexistieren. Er erläutert das Personenkonzept der Tao, bei dem von einer lose am Körper verankerten Seele ausgegangen wird, die bei jüngeren Kindern in Gefahrenmomenten wegzufliegen droht. Der Autor verfolgt einen sozial-interaktionistischen Ansatz, aus dem hervorgeht, dass Tao-Kinder im Kleinkindalter sukzessive ihren Aktionsradius erweitern. In der Kindheitsphase wenden sie sich den Peers zu, mit denen sie zusammen umherstreifen ohne den Bereich der menschlichen Siedlung zu verlassen. Tao-Bezugspersonen machen hauptsächlich von proximalen Sozialisationsstrategien Gebrauch (z.B. Primäre Pflege). Die in gegenwärtigen westlichen Mittelschichtsfamilien verbreiteten distalen Praktiken (z.B. Face-to-Face-Kontakt) sind von untergeordneter Bedeutung. Stattdessen tritt bei den Tao eine im heutigen westlichen Kontext nur wenig akzentuierte distale Strategie auf, die vom Autor als Geben und Empfangen von Nahrung bezeichnet wird. Im späten Säuglingsalter wird Tao-Kindern durch diverse ambivalente und diffuse Praktiken ihrer Bezugspersonen eine affektive „Angst- und Scham-Disposition“ induziert. Jüngere Tao-Kinder lernen, dass die von ihnen als unangenehm empfundenen Behandlungen zu einem Ende gelangen, wenn sie „ruhig bleiben“ und Aggressoren „nicht beachten“. Im späten Säuglings- und frühen Kleinkindalter dominieren Sozialisationspraktiken, die auf Ängstigen und Klapsen basieren. Erst mit einsetzendem Spracherwerb werden Sozialisationspraktiken angewandt, die mit Beschämung (z.B. Auslachen) und dem Androhen von Schlägen einhergehen. Durch systematisches „Wütend machen“ mit nachfolgender Beschämung lernen Tao-Kinder ihren „Ärger“ zu unterdrücken. Anzeichen von „Traurigkeit“ dürfen in der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden, da sie nach lokaler Auffassung eine Schwächung der Seele und somit Gefährdung des „körperlichen Selbst“ hervorrufen. Die beiden sozialisierenden Emotionen bei den Tao sind „Angst“ und „Scham“, wobei erstere ontogenetisch betrachtet früher auftritt als letztere. Beide sind miteinander verwoben und tragen zu einer kulturspezifischen Überformung von „Ärger“ und „Traurigkeit“ bei. Bevor in den 1970er Jahren ein gravierender soziokultureller Transformationsprozess auf Lanyu einsetzte, war es Tao-Kindern möglich, ihre anfängliche „Angst- und Scham-Disposition“ sukzessive zu überwinden, indem sie zum Zwecke der Nahrungsmittelproduktion in die als gefährlich wahrgenommene Umgebung des Dorfes vordrangen und auf diese Weise soziales Ansehen erwarben. Aufgrund der obligatorischen Ganztagsschule ist ihnen heute jedoch der traditionelle kulturspezifische emotionale Entwicklungspfad versperrt.
This dissertation deals with the socialization and ontogeny of emotion among Tao children living on the Taiwanese island of Lanyu. Theoretically, the study is based on a multi-component model of emotion (HOLODYNSKI & FRIEDLMEIER 2006), the four universals of child-rearing (QUINN 2005), the concept of children’s developmental niche (SUPER & HARKNESS 1986), and the concept of socializing emotion (FUNK et al. 2012). During the one-year ethnographic field research in a local village community diverse methods from social and cultural anthropology and developmental psychology have been applied. The author starts by giving an overview about the sociocultural context without which an understanding of local socialization practices would not be possible. He presents insights into the history of Lanyu and describes the dynamic character of the social organization consisting of a complex interplay of hierarchical, egalitarian, and antagonistic relations. Moreover, he deals with the house as a focus on kinship, the system of food exchange which generates status and security, the local life course perspective, and socio-spatial patterns of interaction which are derived from age hierarchies and gender relations. He approaches the Tao’s cosmological ideas by describing the dichotomy inherent in the cosmic order in which benevolent and malevolent spiritual beings co-exist. He describes the Tao’s concept of personhood according to which the soul is loosely attached to the body and in dangerous moments, especially among children, prone to flying away in great panic. By taking a social interactionist approach, the author is able to show that Tao children during toddlerhood successively extend their radius of action. Upon entering childhood they turn towards their peers with whom they roam about the village without leaving its confines. Tao caregivers make mainly use of proximal socialization strategies (e.g. primary care). Distal socialization strategies which are common among contemporary Western middle classes (e.g. face-to-face contact) are of minor importance. Instead, the Tao apply a distal socialization strategy which is only little accentuated in contemporary Western contexts and termed giving and receiving of food by the author. In late infancy an affective „anxiety and shame disposition“ is induced in Tao children by their caregivers who make use of diverse ambivalent and diffuse practices. Young Tao children learn that the treatments which they perceive as unpleasant will only come to an end if they „stay calm“ and „do not pay attention“ to their aggressors. In late infancy and early toddlerhood socialization practices are applied which make use of frightening and slapping. Only from the beginning of children’s language acquisition onward socialization practices are used which are accompanied by shaming (e.g. laughing at s.o.) and threatening to beat children. By systematically „irritating“ and subsequent shaming children learn to suppress their „anger“. Expressions of „sadness“ may not be shown in public as they are beliefed to weaken the soul and thereby endanger the integrity of the „bodily self“. The two socializing emotions among the Tao are „anxiety“ and „shame“. If seen from an ontogenetic perspective, the former emotion evolves slightly earlier than the latter. Both are mutually intervowen and contribute to a culturally specific modulation of „anger“ and „sadness“. Before the initiation of a serious sociocultural transformation process in the 1970s on Lanyu Tao children were still able to successively overcome their initial „anxiety and shame disposition“ by obtaining social prestige through their engagement in food production in areas perceived as dangerous by the Tao. Today, due to obligatory full-day schooling, for Tao children this traditional culturally specific emotional pathway is blocked.