Hintergrund und Zielsetzung: Aufgrund ihrer Häufigkeit und Folgenschwere haben psychische Störungen, insbesondere Depression, eine hohe Public Health-Relevanz. Bei ihrer epidemiologischen Beschreibung zeigen sich Diskrepanzen zwischen Ergebnissen aus repräsentativen Bevölkerungsstudien und der Versorgungsforschung. Ziel der Arbeit ist es, Entwicklungen in Morbiditäts- und Versorgungsgeschehen anhand aktueller Ergebnisse aus Querschnitts- und Trendanalysen darzustellen und damit zum Verständnis der spezifischen Aussagekraft von Indikatoren und Datenquellen beizutragen.
Methode: In drei Originalarbeiten werden Daten von insgesamt fünf verschiedenen Befragungs- bzw. Untersuchungsstudien des nationalen Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts ausgewertet. Betrachtet werden sowohl Angaben zur selbstberichteten ärztlichen Diagnose von Depression als auch im klinischen Interview standardisiert ermittelte Diagnosen psychischer Störungen im Zusammenhang mit soziodemographischen Merkmalen. Zum Vergleich werden administrative Depressionsdiagnosen in Routinedaten einer gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) analysiert. In einer Überblicksarbeit werden zusätzlich Indikatoren des Versorgungsangebotes für Menschen mit psychischen Störungen berichtet, um Wechselwirkungen zwischen Morbidität und Entwicklungen im Gesundheitssystem abzubilden und Erklärungsansätze für diese zu identifizieren. Es kommen deskriptive und inferenzstatistische Methoden zur Anwendung.
Ergebnisse: Die 12-Monats-Prävalenz selbstberichteter ärztlicher Depressionsdiagnosen beträgt 8,1% (erhoben 2014-2015) und zeigt sich mit Geschlecht und Bundesland assoziiert. Zusammenhänge mit dem Bildungsstand fallen sowohl querschnittlich als auch über die Zeit inkonsistent aus. Zwischen zwei Surveys der Erhebungsjahre 2008-2009 und 2012-2013 steigen selbstberichtete ärztliche Depressionsdiagnosen von 6,3% auf 8,0% signifikant an. Der Anstieg findet nicht nur in Risikogruppen, sondern bevölkerungsweit statt und kann nur geringfügig durch gleichzeitige Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur erklärt werden. Im direkten Vergleich von Survey- mit GKV-Routinedaten des Jahres 2010 wird deutlich, dass die administrative 12-Monats-Prävalenz von Depression (9,8%) anhand selbstberichteter ärztlicher Diagnosen (5,9%) deutlich unterschätzt wird. Standardisiert diagnostizierte Depression (8,4%) zeigt nahezu gegenläufige Altersverteilungen gegenüber administrativen Diagnosen. Diese Unterschiede liegen auch im zeitlichen Trend vor: Während die Prävalenz psychischer Störungen in Bevölkerungsstudien stabil bleibt, steigt die Zahl kodierter Diagnosen in GKV-Daten an. Zugleich kann ein erheblicher Ausbau von Behandlungskapazitäten beobachtet werden, was verschiedene Interpretationen zur Qualität der Versorgung, Entwicklungen der Morbidität und Veränderungen in der Wahrnehmung psychischen Erlebens zulässt.
Diskussion: Diskrepanzen zwischen Prävalenzschätzungen auf Basis von Survey- und Routinedaten reflektieren sowohl deren spezifische Erhebungszwecke als auch klassische Verzerrungseffekte (Selektions-Bias, Recall- und Reporting-Bias) und weisen auf erhebliche konzeptuelle Unterschiede sowie geschlechts- und altersspezifische Versorgungslagen hin. Zu einer aussagekräftigen Surveillance der psychischen Gesundheit der Bevölkerung und ihrer Versorgungssituation sollten Indikatoren möglichst mit harmonisierter Methodik und direktem Daten-Linkage ermittelt werden. Neben Prävalenzen sollten auch Informationen zu Behandlungsbe- darf, Patientenpräferenzen und Mortalität erhoben werden.
Background and objective: Due to their frequency and severity, mental disorders such as depression, are highly relevant to public health. Epidemiological estimates show discrepancies between results from population surveys and health care research. The present work aims to describe secular trends in morbidity and health care in order to contribute to a better understanding of the specific significance of considered indicators and data sources.
Methods: Data from five surveys of the national health monitoring of Robert Koch Institute are examined. Self-reported physician diagnosed depression as well as standardized diagnoses of mental disorders based on diagnostic interview are considered in association with sociodemographic characteristics. For comparison, administrative diagnoses of depression are analyzed in routine data of a statutory health insurance (SHI). Indicators of health care supply are reported in order to identify explanatory approaches for interactions between morbidity and developments in the health care system. Descriptive and inferential statistical methods are applied in cross sectional and trend analyses.
Results: The 12-month prevalence of self-reported physician diagnosed depression is 8.1% (2014-2015). It is associated with sex and region. Associations with educational level are inconsistent. Between two surveys conducted in 2008-2009 and 2012-2013, prevalence rose significantly from 6.3% to 8.0%. It increased throughout the general population, only slightly explicable by simultaneous changes in population structure. A direct comparison of survey data with routine SHI data for 2010 shows that the administrative 12-month prevalence of de- pression (9.8%) is clearly underestimated on the basis of self-reported physician diagnoses (5.9%). Standardized diagnoses of depression by diagnostic interview (8.4%) show almost opposite age distributions compared to administrative diagnoses. These differences are also present in time trends: While the prevalence of mental disorders remains stable in population studies, the number of coded diagnoses in SHI data rises over time. At the same time, a remarkable expansion of treatment capacities can be observed. This permits different interpretations of the quality of care, developments in morbidity and changes in the perception of mental experience.
Discussion: Discrepancies between prevalence estimates based on survey and routine data reflect both their specific purposes and classical bias and point to considerable conceptual differences as well as sex- and age-specific care situations. For a meaningful surveillance of public mental health, indicators should be determined using harmonized methodology and direct data linkage. In addition to prevalence, information on treatment needs, patient prefer- ences and mortality should be taken into consideration.