Dass eine Interpretation dem Text, auf den sie sich bezieht, *angemessen* sein soll, ist eine nirgends bezweifelte, aber auch so gut wie nie überhaupt thematisierte Vorstellung. Sie wird explizit vor allem in literaturwissenschaftlichen Methodenkontroversen formuliert, etwa wenn diskutiert wird, ob eine werkimmanente oder eine kulturgeschichtliche Methode der Literatur angemessener sei. Beide Positionen behaupten dann typisch die Angemessenheit der eigenen beziehungsweise die Unangemessenheit der abgelehnten Methodologie. Implizit wird die Angemessenheitsbehauptung aber in jeder Textinterpretation mitgeführt, und sie liegt auch allen methodologischen Texten über die Interpretation zugrunde. Die Angemessenheit ist gleichsam der unhinterfragte Rahmen, das unausgesprochene Ziel jeder methodologischen Reflexion in den textinterpretierenden Disziplinen. Unabhängig davon, wie man eine solche Angemessenheit inhaltlich füllt, verweist sie auf die jeder hermeneutischen Operation vorgängige Objektkonstitution, also auf die Frage, was überhaupt ein literarischer Text ist. Nur wer eine Vorstellung vom „Wesen“ der Literatur hat, kann sinnvoll behaupten, diese oder jene Methode, diese oder jene Interpretation sei einem literarischen Text angemessen oder nicht.
Dabei wird schnell klar, dass über die hermeneutische Objektkonstitution prinzipiell nicht abschließend entschieden werden kann: In der Geschichte der philologischen Disziplinen gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher, oft sogar entgegengesetzter Auffassungen darüber, was Literatur eigentlich sei und was es zu erklären gelte, wenn man einen literarischen Text analysiert. Die Arbeit fasst die hermeneutische Angemessenheit aus diesem Grund nicht als *Begriff*, sondern als einen argumentativen *Topos*. Topos meint in diesem Kontext eine implizite Prämisse, die ein Argument stützt, ohne ihrerseits explizit behauptet werden zu müssen. Es wird also nicht nach Kriterien gefragt, die erfüllt sein müssen, damit man eine Interpretation als angemessen oder unangemessen bezeichnen darf. Vielmehr wird die „Angemessenheit“ als Argumentationsfigur beschrieben, auf die man sich berufen kann, um den eigenen Ansatz methodologisch zu plausibilisieren, obwohl die basalen Fragen nach dem hermeneutischen Gegenstand prinzipiell unentscheidbar sind. Der Topos der Angemessenheit, so kann das systematische Resultat der Arbeit zusammengefasst werden, invisibilisiert die vorausgesetzte Objektkonstitution und behauptet zugleich deren inhaltliche Richtigkeit. Ausgehend von diesen allgemeinen Überlegungen analysiert die Arbeit die Verwendungsweise des Angemessenheitstopos in der hermeneutischen Theoriebildung in mehreren historischen Fallstudien. Es wird sichtbar, dass, wenngleich alle untersuchten Theorien auf den Topos rekurrieren, damit jeweils recht unterschiedliche Vorstellungen verknüpft werden.
Zunächst stellt sich für die Analyse ein methodisches Problem: Anders als zunächst erwartet werden mag, tauchen die Wörter „angemessen“ und „Angemessenheit“ in den hermeneutischen Theorien an keiner Stelle in terminologischer Bedeutung auf. Es ist deshalb rechtfertigungsbedürftig, welche Stellen in den analysierten Theorien man überhaupt als Aktualisierung des Angemessenheitstopos identifizieren kann. Aus diesem Grund beginnt die Arbeit mit der Erarbeitung eines heuristischen Suchbegriffs. Dazu wird zunächst die Frage gestellt, was Angemessenheit in der klassischen Rhetorik meint, da sie hier oft als die wichtigste der rhetorischen Stilqualitäten angesehen wird. Es werden in unterschiedlichen Texten, vor allem bei Aristoteles, Cicero und Quintilian, jene Aspekte gesammelt, die thematisch sind, wenn von „Angemessenheit“ die Rede ist. Fünf mögliche Bedeutungsfelder lassen sich unterscheiden: (1) Die Angemessenheit der Rede an ihre Umstände, (2) das richtige Maß und die Mitte zwischen zwei Extremen, (3) die richtige Stelle, also das Verhältnis von Teil und Ganzem, (4) eine spezifisches Urteilsvermögen des Redners, sowie (5) die Vorstellung, die Sache selbst „erfordere“ die ihr angemessene Behandlungsart. Diese Aspekte dienen im Durchgang der Analysen als Suchbegriffe: Jene Stellen in den hermeneutischen Texten, an denen auf diese Aspekte Bezug genommen wird, werden dann als Aktualisierungen des Angemessenheitstopos behandelt. In den drei sich anschließenden Kapiteln erfolgen detaillierte Analysen des Topos bei ausgewählten Autoren aus der hermeneutischen Tradition. Es zeigt sich, dass sich idealtypisch drei Paradigmen mit je eigenen Problemkonstellationen und je besonderer Gewichtung der fünf unterschiedenen Angemessenheitstopoi unterscheiden lassen: Ein *rhetorisches* Paradigma, das sich vornehmlich auf das erste Bedeutungsfeld bezieht, ein *ästhetisches*, das mit Schlagworten wie „Gefühl“ und „philologischer Takt“ vor allem den vierten Aspekt betont, und ein *philosophisches*, das die Angemessenheitsvorstellung vor allem durch den fünften Aspekt rechtfertigt.
Zuerst wird nach der Verwendung der Angemessenheitstopik in den logischen Hermeneutiken des 18. Jahrhunderts gefragt, vornehmlich anhand der Texte von Johann Martin Chladenius und Georg Friedrich Meier. Es fällt auf, dass dort zwar regelmäßig eine bestimmte Bedeutung der Angemessenheit aufgerufen wird, dass es sich dabei aber nicht um die hermeneutische Angemessenheit im Sinne einer Gegenstandsangemessenheit der Interpretation handelt, sondern um eine epistemologische Lesart des Begriffs: Die Aufklärungshermeneutiken gehen von einer rationalistischen Semiotik aus, wonach die Zeichen nach eindeutigen Konventionen den Dingen zugeordnet sind, und wonach alle vernünftigen Autoren sich strikt an diese Regeln halten. Weil die Textinterpretationen bei der „Entschlüsselung“ der Texte den selben Regeln folgen, stellt sich in diesem Modell das Problem der Angemessenheit noch nicht. Interpretieren wird in diesen Theorien als logische Operation konzipiert, die eindeutig richtig oder falsch ist; zu sagen, sie sei zusätzlich „angemessen“ oder „unangemessen“ macht dann demgegenüber entweder keinen Sinn oder keinen Unterschied.
Dies ändert sich mit der Ablösung des rhetorischen durch ein ästhetisches Paradigma zur Beschreibung der Textproduktion, die in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts stattfindet. Hierdurch ändern sich die Anforderungen an die Hermeneutik. Der literarische Text wird nun nicht mehr als Aktualisierung einer Regel beschrieben, sondern als ein lebendiger Organismus. Wenn aber jedes Kunstwerk einzigartig ist, dann muss auch die Hermeneutik sich jedes Mal neu fragen, ob sie ihm wohl gerecht wird. Gerade weil das Werk seinen Umständen nicht mehr (im rhetorischen Sinne) angemessen sein muss, muss sich die Hermeneutik ihrerseits dem Werk anmessen, das heißt: Sie muss die Maßstäbe der Interpretation auf jedes Kunstwerk je neu anpassen. Dies ist der Punkt, an dem die rhetorische Angemessenheit des Textes zur hermeneutischen Angemessenheit der Interpretation an den Text wird. In Analysen der hermeneutischen Theorien von Friedrich August Wolf, Friedrich Schlegel, Schleiermacher und August Boeckh wird gezeigt, wie bestimmten Aspekten der Angemessenheit nun eine konstitutive Rolle für die Bedeutungszuschreibung eingeräumt wird. Der Angemessenheitstopos organisiert nun maßgeblich die teils sehr ambivalente Positionierung der Philologie zwischen genialischer „Kunst“ der Auslegung einerseits und einer strenger wissenschaftlichen Konzeption andererseits.
In einem weiteren Kapitel wird anhand zweier einflussreicher Hermeneutiken, der Theorien Diltheys und Gadamers, nach den Transformationen der Angemessenheitstopik im 20. Jahrhundert gefragt. Diese Theorien setzen die Objektkonstitutionen nicht mehr topisch voraus, sondern erörtern sie ausführlich im Sinne eines philosophischen Problems. Die Angemessenheitstopik spielt zwar nach wie vor eine Rolle, der Bezug darauf ist nun aber ein grundlegend anderer. Die hermeneutischen Theorien des 20. Jahrhunderts müssen so als Versuche angesehen werden, die Repräsentationsfunktion der Kunst durch philosophische Analysen gegen die sich zunehmend verbreitende Einsicht in die Beobachterrelativität allen Wissens zu retten.
Im weiteren Verlauf der Theoriediskussion scheint die Frage nach der Angemessenheit oder Unangemessenheit ihre Bedeutung, die sie Ende des 18. Jahrhunderts erhalten hatte, und deren Karriere auch im 20. Jahrhundert beachtlich ist, verloren zu haben. Zwei zentrale Strukturmomente der Angemessenheitstopik, ihre *Latenz* und ihre *Exklusivität*, verlieren nämlich im 20. Jahrhundert ihre Plausibilität: Die Leitbegriffe werden, indem die Methodenwahl nun zu einer bewusst zu vollziehenden Entscheidung wird, nicht mehr latent angenommen, sondern typisch vor Beginn der Analyse expliziert; die resultierende Perspektive erscheint dann nicht mehr die einzig angemessene, sie hebt nur bestimmte Aspekte hervor, um die es dem Interpreten besonders geht.
Es ist der Anspruch der Arbeit, einen Beitrag zum Verständnis der Wissenschaftsgeschichte der Philologien zu leisten. Die geisteswissenschaftliche Wissensproduktion sollte weniger anhand des logisch-deduktiven Modells beschrieben werden, sondern als eine primär topische Konfiguration. Anstatt die Hermeneutik anzusehen als die Serie von Antworten auf *eine* Frage – was ist Verstehen und wie kann man es herstellen? – kann es instruktiv sein, die strukturellen Gemeinsamkeiten zu betonen und danach zu fragen, wie bestimmte Setzungen in methodologische Anweisungen übersetzt werden. Anstatt zu fragen, *was* Verstehen ist, würde die literaturwissenschaftlichliche Hermeneutik dann fragen, *wie* philologische Methoden plausibilisiert werden.