Um die Fortschritte hinsichtlich der globalen Ziele der Tuberkulosekontrolle und die Effizienz von Kontrollprogrammen künftig verlässlicher einschätzen zu können, hat die Weltgesundheitsorganisation einen Arbeitsprozess in Gang gebracht, mit dessen Hilfe eine umfassende Analyse und Validierung von Tuberkulosedaten und Meldesystemen in den Ländern vorgenommen werden soll. Im Rahmen dieses Prozesses unterstützt die WHO Studien zum Zwecke der Evaluierung und Bewertung von Routinedaten der Tuberkulosekontrolle, speziell in Ländern mit hoher Tuberkuloseinzidenz. Die Russische Föderation steht derzeit auf Rang 11 in der Liste der Länder mit der höchsten Zahl geschätzter Tuberkulosefälle weltweit. Ziel dieser Arbeit ist eine Analyse und Neubewertung von Tuberkulosemeldedaten in Russland auf Grundlage von Empfehlungen der WHO und der von der Global Task Force on TB Impact Measurement veröffentlichen neuen Analysestandards. Die wichtigsten Erkenntnisse, die aus dieser Arbeit hervorgegangen sind, und ihre Bedeutung werden nachfolgend zusammengefasst: 1.) Die Vollständigkeit der Erfassung von Tuberkulosefällen hat sich in den vergangenen Jahren in Russland deutlich verbessert. Maßgebend hierfür ist vor allem, dass jährliche Fallberichte aus dem Gefängnis- und dem militärischen Sektor in das Meldesystem des russischen Gesundheitsministeriums integriert wurden. Dieser „Vervollständigungseffekt“ muss bei der Interpretation zeitlicher Trends der Tuberkulose in Russland berücksichtigt werden. Eine Untersuchung der Vollständigkeit der Erfassung von Tuberkulosefällen auf regionaler Ebene, d.h. auf Ebene der Dispensaire, Krankeneinrichtungen und medizinischen Stützpunkte ist anhand der Meldedaten derzeit nicht möglich. Diesbezüglich sind weiterführende Untersuchungen auf der Basis der in der Arbeit diskutierten Methoden empfehlenswert. 2.) Hinsichtlich der Erfassung einzelner Fallgruppen deckt die Arbeit die derzeitigen Herausforderungen für das russische Tuberkulose-Meldewesen auf: Der Anteil pulmonaler Tuberkulosefälle mit bakteriologischem Erregernachweis ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, bleibt jedoch im Vergleich zu internationalen Referenzwerten auf niedrigem Niveau. Dabei bestehen erhebliche regionale Unterschiede im relativen Anteil bakteriologisch bestätigter Fälle (zwischen 30% und 80% aller Pulmonalen Tuberkulosefälle). Eine nicht flächendeckende Labordiagnostik und die Praxis von Bevölkerungsscreenings sind mögliche Ursachen hierfür. Weiterhin bestehen erhebliche zeitliche und regionale Schwankungen in der Erfassung von Rezidivfällen bzw. Fällen mit vorheriger Behandlung. Diese Schwankungen legen nahe, dass es in den Regionen Unregelmäßigkeiten bei der Erfassung von zuvor behandelten Tuberkulosefällen gibt. Die Erfassung anderer Fallgruppen bewegt sich ohne nennenswerte Schwankungen innerhalb zu erwartender Referenzwerte. 3.) Die aktive Identifizierung von Tuberkulosefällen mittels Reihenuntersuchungen in der russischen Bevölkerung ist derzeit landesweit Praxis. Im Jahr 2006 wurden knapp 60 Millionen Einwohner per Röntgen auf Tuberkulose untersucht. Im selben Jahr wurden über die Hälfte aller Meldefälle im Rahmen von Reihenuntersuchungen identifiziert. Nur 36% der mittels aktiver Methoden identifizierten pulmonalen Tuberkulosefälle waren sputum- oder kulturpositiv. Die Praxis der Reihenuntersuchungen hat immense Folgen für die Überwachung und Kontrolle der Tuberkulose, welche in der Arbeit diskutiert werden. 4.) In Russland ist es in den 90er Jahren zu einem steilen Anstieg der Tuberkulosezahlen gekommen. Die vorliegende Arbeit zeigt, dass sich die Epidemie in verschiedenen Teilen Russlands unterschiedlich entwickelt hat. Zentren der derzeitigen Tuberkuloseepidemie sind das südliche Sibirien, der Ferne Osten, sowie die nördlichen Kaukasus-Regionen. Weiterführende Untersuchungen sind notwendig, um die Ursachen für die teils erhebliche geografische Variabilität der Tuberkuloserate besser zu verstehen und die Tuberkulose in den Regionen gezielter bekämpfen zu können. 5.) Russland verfügt über ein ausgedehntes Netzwerk spezialisierter Einrichtungen für die stationäre Tuberkuloseversorgung. Im Jahr 2001 standen knapp 82.000 Betten für die Behandlung Tuberkulosekranker zur Verfügung. Trotz erheblicher Überkapazitäten waren Tuberkulosebetten landesweit durchschnittlich 325 Tage pro Jahr belegt. Die Arbeit zeigt, dass strukturelle Faktoren wie die Bettenkapazität maßgeblich für das Ausmaß der stationären Tuberkuloseversorgung sind. Dadurch wird eine effiziente und medizinisch sinnvolle Krankenversorgung und der rationale Einsatz von Ressourcen erschwert. Dies ist besonders vor dem Hintergrund hoher Kosten von erheblicher Bedeutung. Im Sinne einer effizienten Tuberkulosekontrolle sind Reformen der Gesundheits- und Finanzierungssysteme dringend notwendig. 6.) Auch Jahre nach der Einführung der DOTS-Strategie in Pilotregionen der Russischen Föderation unterschieden sich im Jahr 2001 die stationäre Bettenkapazität, Bettenbelegung und Behandlungsdauer in diesen Regionen nicht von jenen Regionen mit traditionellem Modell der Tuberkulosekontrolle. Somit ist anzunehmen, dass auch mit der Einführung des internationalen Modells der Tuberkulosekontrolle in Russland die Barrieren ineffizienter Gesundheits- und Finanzierungssysteme fortbestehen und notwendige Reformen bisher ausgeblieben sind. Die vorliegende Arbeit soll zu einem besseren Verständnis für die Situation der Tuberkulose und die spezifischen Probleme ihrer Kontrolle in Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion beitragen. Sie soll einen Beitrag zur von der WHO gegenwärtig durchgeführten systematischen Bewertung von Meldedaten und -systemen in den Ländern leisten.
The World Health Organization (WHO) has recently initiated a working process in order to allow for a more reliable assessment of the progress towards the global targets for tuberculosis (TB) control and the efficiency of TB control programs. This process includes analysis and validation of routine TB surveillance and program data within National TB Programs worldwide. In this context, the WHO supports operational research aiming to evaluate routine data, in order to draw more comprehensive information about TB epidemiology and control, especially in countries with high TB incidence. The Russian Federation currently ranks 11th by estimated numbers of incident TB cases worldwide. The purpose of this dissertation was to analyze and re-evaluate TB surveillance and program data in Russia on the basis of a new framework and a set of new methods developed by the WHO Global Task Force on Tuberculosis Impact Measurement. The main results of this study are as follows: 1\. The inclusion of reports of TB cases notified in so called “non-civilian” sectors, e.g. among prisoners and the military, into the notification system of the National TB Control Program (NTP) has lead to a significant improvement of the completeness of recording of TB cases in the Russian Federation during the past years. The effect of improved completeness of notification needs to be taken into consideration when interpreting trends of tuberculosis in Russia over time. Currently, it is not possible to draw definite conclusions about the completeness of recording in Russia, as lower administrative levels of recording (e.g. districts, hospitals and health posts) need to be taken into account. Further studies on the basis of methods discussed in this dissertation are recommended. 2\. The analysis of sub-groups of notified TB cases conducted in this study highlights some of the current challenges of the NTP in Russia: The proportion of pulmonary TB (PTB) cases with bacteriological confirmation has been increasing over recent years, but remains very low compared to other settings, and shows considerable variation across the administrative regions of the Russian Federation (between 30% and 80% of all PTB cases notified). Lack of laboratory supply and the practice of mass screening are possible reasons for this finding. The study further documents variation over time and space in the proportion of re-treatment TB cases notified, possibly resulting from differing standards of surveillance and reporting. Other groups of cases are consistent with international reference levels used by the WHO. 3\. Active TB case finding via X-ray population screening is common practice in the Russian Federation with nearly 60 million people screened and more than half of all TB cases identified via X-ray screenings. The dissertation discusses the important implications for the interpretation of TB trends and for TB control in general, that result from this practice. 4\. The Russian Federation has witnessed a steep increase in the number of TB cases during the 1990s. This study shows that there is a substantial geographical variation of TB rates in different parts of the country. Southern Siberia, the Far East and the Northern Caucasus are important centers of the today epidemic. The variation in TB notification rates likely reflects true incidence and has important implications for TB control in the country. 5\. Russia manages an extensive disease-specific network of inpatient health-care facilities with nearly 82,000 beds used for exclusively for anti-TB treatment – far beyond what is necessary to provide hospitalized treatment. Occupation of inpatient capacity is high. Hospital utilization is predominantly determined by supply-side factors such as hospital bed capacity, which forms a barrier to efficient use of available resources. 6\. The implementation of the international TB control strategy in Russian pilot regions has not led to changes in the practice of lengthy inpatient treatment and repeated re-admissions, and health system reform has likely not occurred in those regions. For TB control in the Russian Federation, reforms of institutional, regulatory and financial systems are needed. The dissertation aims to contribute to a better understanding of the epidemiological situation of TB and the specific problems of TB control in the Russian Federation, and to support the process of systematic analysis of TB surveillance data and control systems in countries of the former Soviet Union and elsewhere.