Hintergrund: Die medizinische Versorgung von Menschen ohne Aufenthaltsstatus und von Migrant*innen aus EU-Ländern, die einen legalen Aufenthaltsstatus haben, aber nicht krankenversichert sind, erfolgt häufig über Hilfsorganisationen. Insbesondere chronische Erkrankungen können dort oft nur unzureichend versorgt werden.
Ziel: Ziel der Arbeit war es, die medizinische Versorgungssituation von chronisch kranken Migrant*innen, die nicht krankenversichert sind, aus der Sicht betreuender Ärzt*innen zu charakterisieren und Faktoren, die die Qualität der Versorgung beeinflussen sowie mögliche Unterschiede in der praktischen Versorgung von EU–Bürger*innen und illegalisierten Patient*innen differenziert zu beschreiben.
Methodik: Es wurden teilstandardisierte Interviews mit 14 Ärzt*innen geführt, die langfristig und regelmäßig in der Versorgung nicht versicherter Migrant*innen tätig waren (aus Anlaufstellen für nicht versicherte Migrant*innen, der medizinischen Obdachlosenhilfe und dem Öffentlichen Gesundheitsdienst). Die Interviews wurden transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring und Steigleder ausgewertet.
Ergebnisse: Die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung nicht versicherter chronisch kranker Migrant*innen variierten innerhalb der Einrichtungen und Praxen. Einschränkungen unterschiedlichen Ausmaßes bestanden bei weiterführenden apparativen Untersuchungen (wie CTs, MRTs, endoskopischen Untersuchungen), der Vermittlung zu spezialistischen fachärztlichen Konsultationen, der Hilfsmittelversorgung und der langfristigen Ausgabe von Medikamenten. Notfalleingriffe waren leichter zu organisieren als planbare Operationen. Eine kontinuierliche Behandlung chronisch kranker Patient*innen fand nur eingeschränkt statt. Faktoren, die Umfang und Qualität der Versorgung beeinflussten, waren: die Existenz von Netzwerken und Kontakten zur Weitervermittlung von Patient*innen, (fehlende) finanzielle Ressourcen, komplizierte organisatorische Abläufe, mangelhafter Informationsfluss zwischen behandelnden Ärzt*innen und Sprachbarrieren. Bestehende Entscheidungsspielräume und eine unterschiedliche Bereitschaft der Ärzt*innen, diese zu nutzen, beispielsweise mit größerem Aufwand Patient*innen individuelle Versorgungsmöglichkeiten zu schaffen, bedingten weitere Unterschiede in der Versorgung. In allen Einrichtungen spielte die Versorgung von nicht versicherten EU-Bürger*innen eine Rolle – allerdings in unterschiedlichen Größenordnungen. Sie erhielten dort die gleiche Versorgung wie illegalisierte Patient*innen.
Diskussion: Die generell für die medizinische Versorgung nicht versicherter Migrant*innen beschriebenen Einschränkungen wirken sich auf chronisch kranke Patient*innen verstärkt aus. Diagnostische und therapeutische Maßnahmen, die nicht direkt innerhalb der ehrenamtlichen Strukturen geleistet werden können, scheitern oft an der Finanzierung und erfordern Mehraufwand und Improvisation seitens der Ärzt*innen. Die Patient*innen sind daher abhängig vom Verantwortungsbewusstsein der Ärzt*innen. Inzwischen wurde in mehreren Bundesländern ein ‚Anonymer Krankenschein‘ eingeführt, der für Menschen ohne Papiere eine eingeschränkte Versorgung sicherstellen soll. Der damit mögliche Umfang der Versorgung chronisch kranker Patient*innen bleibt jedoch strittig.
Background: In Berlin, health care for people without papers and migrants with legal residency status, but without health insurance (mainly EU citizens) is often provided by non-governmental organizations. Within these structures, especially treatment of chronic illnesses is frequently insufficient.
Objective: We aimed to characterize the medical care situation of chronically ill migrants without health insurance from the treating physician’s perspective, to outline factors influencing the quality of care and to describe possible differences in care for EU citizens and people without papers.
Methods: Qualitative semi-structured interviews were conducted with 14 physicians working long term and regularly in the health care for uninsured migrants (free clinics for uninsured migrants, and/ or homeless, public health services). Interviews were transcribed verbatim and analysed using qualitative content analysis based on Mayring and Steigleder.
Results: Possibilities of health care for chronically ill uninsured migrants varied widely between different free clinics and medical practices. Technical diagnostic examinations (like CT, MRI, endoscopic examinations), referrals to specialist care, provision of assistive equipment and long-term medication were restricted to variable extent. Emergency procedures were easier to organize than elective surgeries. Continuous care for chronically ill patients was limited. Factors influencing extent and quality of care were: the existence of networks and contacts for patient referrals, (missing) financial resources, complicated organizational procedures, poor information flow between treating physicians and language barriers. Additional variation in care resulted from different scopes for decision-making and the respective physician’s willingness to make use of such, e.g. by greater personal efforts to achieve individual care solutions for patients. Uninsured EU-citizens were patients of all free clinics and medical practices, albeit in various quantity. Compared to people without papers, there was no difference in the care they received there.
Discussion: Restrictions already described for uninsured migrants’ medical care in general have even more impact on chronically ill patients. Diagnostic and therapeutic measures that cannot be provided directly within the volunteer structures are often not realized due to lack of funds and require additional efforts and improvisation on the part of the physicians. Therefore, patients depend on their physicians’ sense of responsibility. In the last years, some German states have introduced an “anonymous health insurance voucher” in order to secure access to limited health care for people without papers. However, it is still controversial to which extent this includes care for chronically ill patients.