Mein Dissertationsprojekt verfolgt das Ziel, die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten für Emotionen und andere innere Zustände und das diesen Ausdrucksmöglichkeiten zugrundeliegende Verständnis von Emotionen und inneren Zuständen bei einem seltenen genetischen Syndrom, dem Williams-Syndrom (WS), umfassend zu erforschen. Dafür werden 15 Kinder und Jugendliche mit WS und eine Vergleichsgruppe aus 30 Kindern und Jugendlichen mit einem unauffälligen Entwicklungsverlauf anhand verschiedener Tests untersucht. Der Ausdruck von Emotionen und inneren Zuständen war in der bisherigen WS-Forschung kein expliziter Untersuchungsgegenstand und ist daher nur unvollständig erschlossen. Weiterhin herrscht aufgrund der bisher primär neuro- psychologisch orientierten Forschungspraxis bezüglich des WS eine statische Sichtweise auf das Syndrom vor, die die Entwicklungsspezifik dieser Erkrankung weitgehend außer Acht lässt. In dieser Arbeit wird deshalb versucht, die vielfältigen sprachlichen und sprachbegleitenden Ausdrucksmöglichkeiten für Emotionen und mentale Zustände beim WS zu erforschen und dabei einen größeren Entwicklungszeitraum in den Blick zu nehmen, nämlich den Zeitraum vom Schuleintritt bis zum Jugendalter. Diese Forschungsperspektive erlaubt nicht nur die Beantwortung der Frage, welche spezifischen Ausdrucksmöglichkeiten für Emotionen bei WS zu finden sind, sondern auch der Frage, ab welchem Entwicklungsgrad diese Mittel erstmals auftreten und wie sie sich im Weiteren entwickeln. Diese Forschungsperspektive ist besonders spannend, da inhomogene Leistungen im sprachlichen, sozialen, emotionalen und kognitiven Bereich für das Syndrom typisch sind, welche in keiner eindeutigen Relation zum allgemeinen kognitiven Entwicklungsstand der Betroffenen stehen. Diese Stärken und Schwächen betreffen beispielsweise den Bereich des sozial-emotionalen Verhaltens, das durch eine offene, distanzlose und einnehmende Persönlichkeit einerseits, andererseits jedoch durch bedeutende Probleme im Aufbau und der Aufrechterhaltung von Freundschaften zu Gleichaltrigen und teilweise durch depressive und aggressive Tendenzen gekennzeichnet ist. Die genaue Analyse des sprachlichen Ausdrucks von Emotionen und deren Verständnis ist vor diesem Hintergrund von besonderem Interesse. Mit der Studie soll also die Frage beantwortet werden, in welchem Verhältnis das Verständnis mentaler Vorgänge und Emotionen und die Produktion sprachlicher Äußerungen, die diese reflektieren, zueinander stehen. Spezifische Leistungsmuster können gegebenenfalls mit den genetischen Charakteristika der Erkrankung in Zusammenhang gebracht werden. Die Ergebnisse der Studie zeigen deutliche Beeinträchtigungen im nonverbal-kognitiven Bereich bei allen Probanden mit WS und moderate Schwierigkeiten hinsichtlich der sprachsystematischen Kompetenzen. Bezüglich der Emotionsverarbeitung zeigen sich sowohl bei der Interpretation emotionaler Gesichtsausdrücke als auch der von Körperhaltungen Einschränkungen, die jedoch weniger stark ausgeprägt sind, als das Entwicklungsniveau der Probanden vermuten ließe. Im Verstehen von Emotionswörtern und in der Interpretation wütender Gesichtsausdrücke erreichen die WS-Probanden sogar das Niveau altersgleicher Kontrollprobanden. Die höhere kognitive Leistung des Aufbaus einer sogenannten Theorie des Geistes entwickelt sich bei den untersuchten Kindern und Jugendlichen mit WS zwar verzögert, nicht aber verlangsamt. Im Kontrast zu den genannten Befunden stehen die Ergebnisse der narrativen Untersuchung der Probanden. Hier zeigte sich eine verstärkte Verwendung vieler die Geschichten ausschmückender Mittel, wie zum Beispiel die Verwendung von Lautmalereien, des Nachahmens bestimmter Handlungsaspekte und die Verwendung von Ausrufen in der direkten Rede. Selbst wenn der mentale Entwicklungsstand der untersuchten WS-Probanden berücksichtigt wird, finden sich noch Vorteile gegenüber den jüngeren nach mentalem Alter gematchten Kontrollkindern. Dies ist unter anderem der Fall für die Länge der erzählten Geschichten, für Verben, die emotionale Zustände der Akteure der Geschichten widerspiegeln und für Verkleinerungsformen. Eine besondere Schwäche fand sich bezgüglich der inhaltlichen Ausgestaltung der Erzählungen bei WS. Die Geschichten wurden also in beeindruckender Weise ausgeschmückt, wenngleich die inhaltlich bedeutsamen Aspekte der Erzählung oft nicht ausreichend verbalisiert wurden. Die Befunde werden vor dem Hintergrund der vorhandenen Forschungsliteratur diskutiert.