Die vorliegende Studie geht von einem in mehrfacher Hinsicht „außergewöhnlich normalen“ Kindsmordprozess aus, der in den Jahren 1760-66 im gemeinschaftlich regierten Assenheim stattfand. Die soziale und kulturelle Komponente bei den institutionellen und diskursiven Vorgängen rund um die gerichtliche Untersuchung wird durch eine umfassende Kontextualisierung des Falles um Maria Magdalena Kaus herausgearbeitet. Durch ein akteurszentriertes Vorgehen, welches auf den Vorgaben der überlieferten Quellen basiert, werden gleichzeitige, sich überlagernde Netzwerke, Klientel- und Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Kleinstadt sichtbar und somit wichtige Rückschlüsse auf Handlungsoptionen der historischen Akteurinnen und Akteure geliefert. Die Herrschafts- und Gerichtspraxis innerhalb Assenheims wurde durch das Kondominat, d. h. die gemeinsame Landes- und Kirchenherrschaft, der Grafen von Solms-Rödelheim und Assenheim, Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach und Hanau bestimmt. Während sich der Besitzanteil an der Stadt im Falle der beiden ersteren und kleineren Herrschaften auf 5/12 belief, verfügte das größere Hanau lediglich über 2/12. Doch machtpolitische Gegebenheiten außerhalb des Kondominiums spielten bei der alltäglichen herrschaftlichen Praxis in Assenheim eine untergeordnete Rolle. Auch die Konfessionsunterschiede zwischen der evangelisch-lutherischen Mehrheit aus Solms-Rödelheim-Assenheim und Hanau und dem reformierten Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach bedingten abgesehen von kirchlichen Angelegenheiten keine vorgegebene Positionierung gegenüber den beiden verbleibenden Kondomini. Das Verhältnis der drei Herrschaften untereinander kann folglich zumindest für die Zeit von 1740 bis 1790 nicht verallgemeinernd beschrieben werden: es handelte sich vielmehr um eine komplexe Beziehung, die sich je nach Angelegenheit und jeweiligen Interessen figurierte. Zugleich und vermutlich auch aufgrund dieses Handelns, das in erster Line von machtpolitischen Eigeninteressen vorgegeben wurde, kann jedoch im Falle aller drei Herrschaften von einer latenten Atmosphäre des Misstrauens gegenüber den Mitherrschaften gesprochen werden. Dies traf insbesondere auf Hanau zu, welches vor allem aufgrund seiner geringeren Besitzanteile fürchtete, von den beiden übrigen Grafschaften übervorteilt zu werden. Dass die kondominatorische Herrschaft gegebenenfalls auch zusätzliche Handlungsoptionen für die AssenheimerInnen in Form einer gezielten Instrumentalisierung des Herrschaftsverhältnisses eröffnete, zeigt sich beispielhaft an einer Supplikation des Ehepaares Kaus, das die Kondomini durch den Verweis auf einen Beschluss Hanaus unter Druck zu setzen versuchte. Da die gemeinsame Landesherrschaft ein einstimmiges Urteil voraussetzte, konnte eine schon bestehende Entscheidung möglicherweise auch das Urteil der beiden anderen Parteien beeinflussen. Der Abschluss des Prozesses gegen Maria Magdalena Kaus zeigt hingegen, dass das Einstimmigkeitsprinzip auch zu einem für die/den Supplizierende/n ungünstigen Entscheid führen konnte. Insgesamt erscheint die Bestrafung der jungen Kausin „traditionell“. Ansätze einer von den unteren Gerichtsinstanzen ausgehenden Humanisierung, wie sie Helfried Valentinitsch bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den innerösterreichischen Ländern bei einer Betrachtung von Kindsmorden ausmachen konnte, lassen sich bei einer genauen Analyse des Prozesses gegen Maria Magdalena Kaus nicht erkennen. Während sich das Strafmaß im Fall Kaus aus Ermangelung eigener neuerer Gesetzestexte weitgehend an der Peinlichen Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V. aus dem Jahr 1532 und deren Kommentatoren bemaß, wurde den sozialen Umständen oder möglichen Motiven der Angeklagten kein Interesse im Verlauf der gerichtlichen Untersuchung entgegengebracht. Von Beginn an wurde Maria Magdalena Kaus von obrigkeitlicher, medizinischer und juristischer Seite mit Ausnahme ihres Defensors, der sie als „unschuldiges einfältiges Mädgen“ zeichnete gemäß der Figur der „boshaften Kindsmörderin“ konstruiert. Dabei griffen die männlichen Richter und Gutachter auf zeitgenössische Geschlechterstereotype zurück, welche so reproduziert und gefestigt wurden. Vor dem Hintergrund der bürgerlichen Moral, die außereheliche Sexualität unter Strafe stellte, wurde Maria Magdalena Kaus im Verlauf der gerichtlichen Untersuchung stigmatisiert und degradiert. Zugleich zeigt die Betrachtung des Prozesses und seines Kontextes die allgegenwärtige Diskrepanz von kodifizierter Norm und Praxis im frühneuzeitlichen Assenheim, u. a. im Bereich des außer- bzw. vorehelichen sexuellen Verkehrs. Denn obwohl allein die Ehe im 18. Jahrhundert den sexuellen Verkehr legitimierte und eine Schwangerschaft vor diesem Hintergrund ein untrügliches Zeichen eines vorangegangenen Unzuchtdelikts darstellte, machte ein beträchtlicher Teil der AssenheimerInnen unabhängig von seinem sozialen Status außereheliche sexuelle Erfahrungen. Innerhalb des Dreiecksverhältnisses zwischen Landesherren, Verwaltungen und Bevölkerung verfügten alle Akteurinnen und Akteure über Möglichkeiten, die lokale Herrschaftspraxis zu beeinflussen. Durch die gemeinschaftliche Landes- und Kirchenherrschaft ergaben sich dabei auf allen drei Ebenen eingeschränkte, aber auch erweiterte Handlungsfreiräume. Insgesamt wurden diese Handlungsspielräume sowohl auf Seiten der Grafen und Regierungen, der lokalen Funktionsträger und der Bevölkerung nicht von Koalitionen oder Rivalitäten, sondern von (machtpolitischen) Einzelinteressen bestimmt und stellten sich dementsprechend variabel dar.
The present study is based on an infanticide trial that could be called “exceptionally normal” in many respects and which took place in the collectively administered town of Assenheim from 1760 to 1766. A comprehensive contextualization of the case of Maria Magdalena Kaus sheds light on the social and cultural aspects of the institutional and discursive processes during the judicial investigation. An actor-centred approach, based on the surviving written records, illuminates the many overlapping networks, patron-client relationships, and inter-family connections within the small town, thereby allowing important conclusions to be drawn about the various courses of action available to the historical actors, whether male or female. The joint state and church government of the three counts of Solms-Rödelheim-Assenheim, Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach, and Hanau determined the administrative and judicial practices within Assenheim. Each of the first two smaller territories owned a 5/12 share of the city, leaving the remaining 2/12 to the larger territory of Hanau. Yet for everyday governance within Assenheim, power-political considerations outside of joint control were of secondary importance. Even the differences in religious beliefs between the Evangelical Lutheran majority (Solms-Rödelheim-Assenheim and Hanau) and the Reformed Church (Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach) did not cause any rivalry between the joint rulers, apart from ecclesiastical matters. However, it is not possible to generalize the relationship between the three rulers, at least for the years between 1740 and 1790; rather, it was a complex relationship, which depended on the point in question and the relevant interests. At the same time, and presumably also because of these relationships, which were based first and foremost on power-political self-interest, there was a latent atmosphere of mistrust between the joint rulers. This was particularly the case with Hanau, which was afraid of being disadvantaged by the other territories because of its lower share. The joint governments and their directed exercise of power relationships opened up further courses of action for the inhabitants of Assenheim. This is admirably illustrated by a petition from the parents of Maria Magdalena Kaus, in which they tried to pressure Solms-Rödelheim-Assenheim and Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach by referring to Hanaus’s decision. Since the joint government required a unanimous verdict, a pre-existing decision by one of the parties could possibly have an influence on the decision of the other two. However, the conclusion of the trial of Maria Magdalena Kaus shows that the principle of compulsory unanimity could also result in an undesirable decision for the petitioner. Overall, the sentencing of the young suspect appears to be “traditional.” The detailed analysis of the trial doesn’t reveal any signs of a humanization coming from the lower authorities, like Helfried Valentinitsch could determine for Austrian infanticide cases already in the second half of the 17th century. While, in the absence of own more up-to-date laws, the sentence in the Kaus case was largely based on the Constitutio Criminalis Carolina of Charles V (1532) and its commentaries, no reflections on the possible social or economic motives of the accused could be found at any point of the investigation. Right from the start, Maria Magdalena Kaus was portrayed by the governmental, medical, and judicial authorities as the figure of the “malicious child murderess” with the exception of her legal defender, who described her as an “innocent, simple girl.” Thus, the male judges and experts fell back on contemporary gender stereotypes, repeating and reinforcing them.
Against the background of bourgeois morality that condemned extramarital sex, Maria Magdalena Kaus was stigmatized and abased over the course of the judicial investigation. At the same time, an examination of the trial and its context reveals the omnipresent discrepancy between the codified norm and its practice in early-modern Assenheim, including extra- or premarital sexual intercourse. For although marriage alone legitimatized sexual intercourse during the eighteenth century and pregnancy was the unmistakable sign of the prior offence of fornication, a considerable number of women and men in Assenheim engaged in extramarital sex, regardless of their social status. Within the three-sided relationship between the rulers, local administrators, and ordinary citizens, every stakeholder had the chance to influence the exercise of power. The joint state and church government created both limited and extended room for manoeuvre on all three levels. Overall, this leeway was variable and not set by coalitions or rivalries, but by the (power-political) self-interests of the players involved.