Diese rechts- und emotionsethnologische Untersuchung setzt sich zum Ziel, die Rolle von sozialen Normen und Emotionen im individuellen Handeln zu erforschen. In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden soziale Normen oftmals als gesellschaftliche Handlungsrichtlinien definiert, die befolgt werden müssen, um einen sozialen Zweck zu erfüllen bzw. soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Diese Dissertation konkretisiert dieses Verständnis, indem die Frage nach der individuellen Umsetzung von sozialen Handlungsrichtlinien gestellt wird. Soziale Akteure müssen zur Handlungsproduktion die ihnen zur Verfügung stehenden körperlichen und mentalen Kapazitäten anwenden bzw. rekrutieren, was Emotionen einschließt. Emotionen werden als bio-kulturelle Prozesse verstanden, die der sozialen Genese unterliegen und sowohl intra-psychische als auch soziale Funktionen besitzen. Es stellt sich die Frage, wie komplexe gesellschaftliche Normen intra-psychisch umgesetzt werden können bzw. wie diese mental repräsentiert oder internalisiert sind und welche Rolle Emotionen bei der Produktion von konformen Handlungen spielen. Als Beispiel für eine komplexe soziale Norm wurde das Täuschungsverbot im deutschen Rechtssystem gewählt. Im Zuge einer Inhaltsanalyse werden relevante Gesetze und die daran anschließende Rechtsprechung untersucht. Auf Basis dessen wird ein präskriptives gesellschaftlich-etabliertes Handlungsmodell des Täuschungsverbots im deutschen Rechtssystem abgeleitet und abstrahiert. Dieses Modell seziert den juristischen Duktus der Formulierung und logischen Deduktion. Es übersetzt und transferiert das Täuschungsverbots in soziale Anforderungen an den individuellen Bewertungs- und Entscheidungsprozess zur Produktion konformer Handlungen. Das entwickelte gesellschaftlich-etablierte Handlungsmodell differenziert zwischen zwei Bewertungsmustern: ein Bewertungsmuster mittels der binären Variablen faktische Wahrheit/Falschheit und ein Bewertungsmuster mittels der kontinuierlichen Variablen psychischer Druck. Beide Bewertungsmuster treffen eine Unterscheidung zwischen der verbotenen Täuschung und der erlaubten List. Die pfiffige List kann als eine spezielle Form der Täuschung definiert werden. Sie darf nicht als destruktive Handlung verstanden werden. Die List bietet sozialen Akteuren vielmehr die Möglichkeit, ihrem Selbstinteresse zu folgen, ohne dabei die Erreichung sozialer Ziele bzw. die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung zu verhindern. Ob individuelle Handlungen durch dieses gesellschaftlich-etablierte Handlungsmodell erklärbar sind bzw. wie juristische Laien die sozialen Anforderungen dieses Modells umsetzen, wird theoretisch und empirisch untersucht. Die Informanten dieser Studie nehmen an einem Polizeiverhör in einer virtuellen Umgebung teil. Sie entscheiden sich für eine von mehreren Verhörstrategien und geben Aufschluss über ihre assoziierten Bewertungen und emotionalen Erfahrungen. Auf Basis dessen kann die kognitionsethnologische Frage erörtert werden, auf welche Weise formale Systeme, wie z.B. das Recht, nicht nur verbale Regeln sondern auch kognitive Schemata involvieren. Anders ausgedrückt: Können Bewertungsmuster von juristischen Laien bei der Lösung hoch komplexer juristischer Bewertungsprobleme bzw. können individuelle Umsetzungsstrategien der sozialen Anforderungen auch auf kognitiven Schemata beruhen? Die Rolle von Emotionen bei der Produktion konformer Handlungen, die Verbindung zwischen intra-psychischen und sozialen Funktionen von Emotionen ergibt sich durch den Bezug der individuellen Umsetzungen auf die sozialen Anforderungen des gesellschaftlich-etablierten Handlungsmodells und den damit verbundenen sozialen Zielen. Es konnten drei Gruppen oder Typen von individuellen Umsetzungsstrategien der sozialen Anforderungen identifiziert werden. Bei allen Gruppen besitzen Emotionen eine spezifische intra-psychische Funktion zur Lösung des gegebenen Bewertungs- und Entscheidungsproblems. Die Bewertungen und Entscheidungen der ersten Gruppe basieren auf der Berechnung und Maximierung von Erfolgsaussichten, sodass keine Ähnlichkeit zum definierten gesellschaftlich-etablierten Handlungsmodell konstatiert werden kann. Die Bewertungen und Entscheidungen der zweiten Gruppe ähneln stark dem Bewertungsmuster mittels der binären Variablen faktische Wahrheit/Falschheit, die der dritten Gruppe ähneln stark dem Bewertungsmuster mittels der kontinuierlichen Variablen psychischer Druck. Im Wesentlichen lässt sich diesbezüglich feststellen, dass psychischer Druck ein relevantes Attribut bzw. eine relevante Information für die moralische Bewertung von Strategien in einer Entscheidungssituation darstellt. Emotionen besitzen eine wichtige intra-psychische Funktion bei der subjektiven Einschätzung von psychischem Druck. Ihre soziale Funktion besteht darin, die List unter den zur Verfügung stehenden Strategien zu markieren, wodurch soziale Akteure ihrem Selbstinteresse folgen können, ohne dadurch die Erreichung sozialer Ziele bzw. die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung zu gefährden.