Freuds Verhältnis zur Literatur stellt ein kompliziertes und brisantes Thema in der Forschung dar. Was den literarischen Einfluss auf ihn betrifft, so wird die Literatur häufig als Zitatquellen und Beispielgeber gewürdigt bzw. kritisiert, während der ideengeschichtliche Einfluss, den diese Arbeit zu behandeln versucht, wenig thematisiert wird. Um dieses Phänomen systematisch zu untersuchen, ist ein Paradigmenwechsel in der Methodik erforderlich, indem man über die explizit erwähnten Referenzen zur Literatur in Freuds Arbeiten hinaus seine gesamte Lektüre studiert. Auf diese Weise lassen sich sechs Aspekte solcher Einflüsse herauskristallisieren: 1. Literarische Geschichten wie König Ödipus haben nicht nur die Terminologien der Psychoanalyse bereichert, sondern sie sind stets in der Entwicklungsphase präsent und haben die spezifische Erkenntnis vermittelt. 2. Die psychoanalytischen Behandlungsmethoden (Katharsis-Methode und seine revidierte Form der freien Assoziation) lassen sich von literarischen Ideen und Erzählmethoden inspirieren. 3. Der Erkenntnisweg Freuds beginnt mit kleinen literarischen Formen wie Fehlleistung und Witz. 4. Die literarischen Motive und Stoffe liefern Grundmaterialien für Freuds Ursprungsmythos. 5. Freuds Sprache steht der literarischen Sprache viel näher als der wissenschaftlichen, welche ihm die exakten Beschreibungen von psychologischen Problemen ermöglicht. 6. Das tragische Denken in der Literatur, vor allem in den Tragödien, überzeugt Freud von der bösen Natur der Menschen und führt ihn zum Kulturpessimismus. Mit dieser Erkenntnis werden Shakespeares Dramen als Schlüsseltexte in die Fallanalyse herangezogen. Es zeigt sich, dass sie zwar nicht immer so häufig von Freud erwähnt wurden, jedoch Freuds Ansichten zu psychologischen Phänomenen wie Zwangsneurose, Abwehrmechanismus und Melancholie stark geprägt haben. Dass sie nicht alle in Freuds Schriften indiziert sind, zeigt auf, dass Freud als ein „aktiver Leser“ das Gelesene transformiert und in einer ihm eigenen Weise neu erzählt hat. Aber im Prinzip hat die Psychoanalyse dasselbe Wissen als ihre Grundlage wie die Literatur und erweist sich als eine Reflexion über das alte Wissen.