Prolog: Im New York der 1970-iger Jahre durchstreift der Schriftsteller Norman Mailer gemeinsam mit dem Fotografen Jon Nar die Stadt, um die Entstehungsphase einer neuen Subkultur zu dokumentieren: Bereits seit Beginn des Jahrzehntes verewigen sich hauptsächlich Jugendliche aus den marginalisierten Stadtteilen, insbesondere der South Bronx, an den Wänden und U-Bahn-Zügen der Stadt. Was wie eine kurzlebige Mode erscheint, deren Ende schon bald durch die aufkeimende Anti-Graffiti-Politik unter Bürgermeister John Lindsay (1966 – 1973) prophezeit wird, wird ausgehend von New York schon bald eine weltweite Bewegung begründen. Das menschliche Bedürfnis, seine direkte Umgebung zur graphischen und visuellen Kommunikation zu nutzen, lässt sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte bis zurück zu den ersten Höhlenmalereien, entstanden etwa 40.000 v. Chr. im nordspanischen El Castillo, verfolgen. Über biblische Türmarkierungen mit Lammblut bis hin zu den Revierbegrenzungen von Straßengangs in Nord- und Mittelamerikanischen Großstädten wurden Häuserwände über die gesamte Historie der Menschheit hinweg stets als externes Kommunikationsmittel genutzt (Castro et al. 2012: 27f). Doch die neu entstandene Bewegung, schon bald bekannt unter dem Namen Graffiti, stellt erstmals das Individuum ins Zentrum der visuellen Kommunikation im öffentlichen Raum. Durch das widerholte und massenhafte Schreiben des eigenen Namens in Form sogenannter Tags kommunizieren die Jugendlichen in erster Linie ihre eigentliche Existenz: Much like the culture of hip-hop, the culture of writing emerged as a response from marginal groups – be they African-Americans and Latinos or youth – to life in NYC. By fashioning a place for themselves in the cityscape, writers have managed to devise a network and language of their own while integrating their voices into the greater civic community. (Waclawek 2008: 96) So gelingt es ihnen sowohl, sich selbst als Teil der Stadt zu konstituieren, als auch Alternativen zu eben jener Gangkultur zu finden, auf deren visueller Manifestation das ursprüngliche Graffiti hauptsächlich beruht. Statt in gewalttätigen Gangs organisieren sich die Jugendlichen nun in friedlichen Crews, die ihre Gefechte und Konflikte statt mit Waffen mit Farbe und Spraydosen austragen. Durch die, eher zufällige, Verbindung mit der zeitgleich im selben Bezirk entstehenden Hip-Hop-Kultur breitet sich die Graffiti-Bewegung in den kommenden Jahrzehnten inner- und außerhalb der Landesgrenzen der Vereinigten Staaten aus und wird zu einem weltweiten Phänomen. Parallel entwickelt Graffiti sich sowohl inhaltlich als auch ästhetisch weiter. Mit eben jener Hip-Hop-Kultur gelangt die Graffiti-Bewegung zu Beginn der 1980-iger Jahre nach Kolumbien und trifft auf eine Gesellschaft, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits seit zwei Jahrzehnten in einem internen bewaffneten Konflikt befindet. Wie auch in seiner Ursprungsphase in New York, bietet Graffiti bislang marginalisierten Bevölkerungsgruppen die Möglichkeit, sich an der visuellen Konstruktion zu beteiligen und somit die Stadt aktiv mit zu gestalten. Die Ergebnisse der Streifzüge Nars und Mailers, dokumentiert in dem essayistischen Fotoband „The Faith of Graffiti“ (Originalausgabe 1974), werden dabei zur „referencia de todo“ (Cazdos) der Subkultur und inspirieren Graffiterxs der neuentstehenden Graffiti-Szene.