Wenn man sich so umhört, so wird mitgeteilt: Immanuel Kant war für seine philosophische Wissenschaft ein sehr wichtiger, ein tiefer Denker, der epochale Werke verfasste, gewiss. Aber doch ein Weltabgewandter, ein Asket, jemand, der als Beispiel für den Forscher im Elfenbeinturm dienen kann. Zudem verließ er nie seine Heimatstadt Königsberg. Wie könnte so jemand über Fragen der Lebensklugheit mitreden können? Dieses Bild hat sich eingebürgert, aber es ist falsch. Einer, der sich auf ein Thema, die Erkenntnistheorie, ausschließlich konzentrierte, war er nicht und ein staubtrockener, in sich gekehrter Stubengelehrter schon gar nicht. Darüber gibt es viele Zeugnisse von Teilnehmern an seinen Kollegs, viele davon, die sich nur seinetwegen von weit her nach Königsberg aufmachten. Er in seinen blühendsten Jahren hatte die fröhliche Munterkeit eines Jünglings, die, wie ich glaube, ihn auch in sein greisestes Alter begleitet. Seine offene, zum Denken bestimmte Stirn war ein Sitz unzerstörbarer Heiterkeit und Freude, die gedankenreichste Rede floss von seinen Lippen, Scherz und Witz und Laune standen ihm zu Gebot, und sein lehrender Vortrag war der unterhaltendste Vortrag. "Er munterte auf und zwang angenehm zum Selbstdenken. Despotismus war seinem Gemüt fremd. Dieser Mann, den ich mit größter Dankbarkeit und Hochachtung nenne, ist Immanuel Kant, sein Bild steht angenehm vor mir." Der dieses schrieb war nicht irgendwer, sondern Johann Gottfried Herder, der selber einer der großen Anreger des klassischen Zeitalters in Deutschland war. Schon dieses Zitat besagt, wie sehr Kant mitten im Leben stand. Sein geselliges Leben fand seinen schönsten Ausdruck in seinen oftmaligen Einladungen zum Mittagessen, über alles durfte dort gesprochen werden - nur nicht über Philosophie, auch dies ein schönes Zeugnis darüber wie weltneugierig dieser Jüngling war. Seine Art, die Welt zu sehen, hat er in jedem Wintersemester vorgestellt. Nicht nur die Studenten, sondern zahlreiche Bürger und Bürgerinnen aus Königsberg nahmen daran teil. Seine Absicht war praktisches Wissen zu vermitteln, und davon geht auch der Titel der schriftlichen Fassung aus: „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“. Es war das letzte Werk, das er noch selbst redigierte. Es ist über die Jahrzehnte entstanden, somit kein Alterswerk mit pessimistischem Unterton. Vielmehr eine Anleitung wie man „mitten im Leben stehen“ kann und wie man die Vermögen des Intellekts und der Gefühlskraft bewerten und verwenden kann. „Man soll sich das Leben nicht verderben“. Die folgende Studie umfasst die wichtigsten Gedanken aus den ersten drei Büchern: Vom Erkenntnisvermögen, von den Gefühlen der Lust und der Unlust und vom Begehren. Die Grundgedanken der Paragraphen werden zunächst vorgestellt und interpretiert, schließlich mit eigenen Nachgedanken versehen.