Den Ausgangspunkt der Dissertation bildet das Fehlen einer einschlägigen Poetik zur volkssprachlichen deutschen Dichtung des Mittelalters, die Hinweise auf leitende Kategorien, Konzepte und Normen der damaligen Literaturproduktion, insbesondere im Bereich der Lyrik, enthält. Aus diesem Grund ist die germanistische Mediävistik auf poetologische Äußerungen in der mittelalterlichen Dichtung oder auf die Evidenz literarischer Verfahren angewiesen, die immer die Gefahr bergen, antike oder moderne Vorstellungen auf historische Texte zu übertragen. Daher wird versucht, einen Ansatz zu entwickeln, welcher der Alterität der mittelalterlichen Dichtung bzw. Lyrik angemessen ist.
Zu den zentralen Kategorien der Untersuchung zählen die Begriffe ‚Rolle', ‚Genre' ‚Gender', ‚Konkretisierung', ‚Erotisierung' und ‚Umbesetzung'. Der Rollenbegriff hat die Funktion, zwischen Ich-Instanzen und Autor-Instanz zu unterscheiden, während sich der Terminus ‚Genre' auf Systeme bezieht, die nicht als statisch und normativ, sondern dymanisch und flexibel angesehen werden. Die Überschreitung von Gattungsgrenzen und somit die Verschiebung in der Anordnung von Systemen wird durch die Kategorie ‚Gender' beschrieben, die als Schnittstelle für heterogene Elemente gilt. Schließlich sollen die bereits etablierten Termini ‚Konkretisierung', ‚Erotisierung' und ‚Umbesetzung' dazu dienen, Techniken der Erweiterung und Transzendierung von Gattungsgrenzen zu beschreiben.
Im Zentrum der Analyse stehen Lieder des Dichters Oswald von Wolkenstein, die von der Forschung lange Zeit biographisch gedeutet und in zwei Gruppe unterteilt wurden: die ‚Gefangenschafts-' und ‚Ehelieder'. Im Gegensatz dazu wird gezeigt, daß diese Lieder unter genrespezifischen Gesichtspunkten keine eigenständigen Corpora bilden. Vielmehr ist es das Ziel, den gattungsgenerierenden Charakter von Gender und so neue Zuordnungsmöglichkeiten der Lieder im lyrischen System zu erschließen und den Nachweis zu erbringen, dass sie unterschiedlichen Genres angehören.
In my dissertation, I argue that there is no relevant poetic on vernacular German poetry of the Middle Ages, which provides leading categories, concepts and norms of medieval literary production, especially in the field of poetry.
For this reason the field of German medieval studies relies on poetical comments in medieval literature and on evidence of literary techniques. This, however, might result in applying antique and modern ideas to historical texts. I will, therefore, try to develop a method which is appropriate for the alterity of medieval literature and poetry.
Central categories of the study are the terms "role", "genre", "gender", "concretisation", "erotizing", and "defining new roles". Whereas "role" distinguishes between the lyrical I and the author, the term "genre" refers to systems which are not considered as static and normative, but dynamic and flexible.
The category "gender", which is considered the interface between heterogeneous elements, describes the transcending of genre limits and hereby the shift in the disposition of systems.
Finally, the already established terms "concretisation", "erotizing" and "defining new roles" depict techniques to expand and transcend genre limits.
The study focuses on songs by the poet Oswald of Wolkenstein, which for a long time have been interpreted by literary criticism as biographical and have been divided into two groups: 'captivity' and 'matrimony songs'. In contrast to this, I will show that according to genre specific criteria these songs do not represent corpora in their own rights. It is the objective of this study to define the genre generating character of gender and by doing so to find new ways of allocating the songs within the lyrical system and to prove that they belong to different genres.