Die Arbeit beschäftigt sich mit den kunst- und kulturtheoretischen Schriften des österreichischen Literatur- und Kunstkritikers Hermann Bahr, der den um die Jahrhundertwende einsetzenden Diskurs über das Spezifische der modernen Kunst, des modernen Künstlers und des modernen Kritikers entscheidend geprägt hat. Bahr hat eine Vielzahl von Begriffen und Bildern zum modernen Künstlertum, wenn nicht selbst erfunden, so doch durch seine Vermittlungstätigkeit und seine Systematisierungsarbeit so allgemein bekannt gemacht, dass das Nachdenken über das Besondere der modernen Kunst und das Verhältnis zwischen Kunst und Kritik zumindest implizit bis heute unter seinem Einfluss steht. In der Forschung war Bahr lange Zeit vor allem als schnell agierender Stichwortgeber der literarischen und künstlerischen Bewegungen der Jahrhundertwende bekannt, der durch seine Artikel Begriffe wie diejenigen der Décadence und des Symbolismus einer größeren Öffentlichkeit erst nahegebracht, vor allem aber eine Reihe deutschsprachiger Schriftsteller – von Hofmannsthal bis zu Thomas und Heinrich Mann – mit neuen literarischen Konzeptionen und in Deutschland und Österreich noch unbekannten europäischen Künstlern und Kritikern vertraut gemacht hat. Dass Bahr, vor allem in der Anfangszeit seiner kritischen Tätigkeit, einen genauen Blick für entscheidende Bewegungen in Kunst und Literatur hatte, macht ihn zu einer häufig genannten Referenz in Darlegungen zur Kunst und Literatur der Jahrhundertwende. Wenn man vielleicht, wie in der Forschung zwischenzeitlich angemerkt wurde, Bahrs Einfluss auf die Autoren des Jungen Wien im Einzelnen nicht überschätzen sollte (so Jacques Le Rider), so sollte man wiederum nicht unterschätzen, wie stark die Literaturwissenschaft sich von ihm hat beeinflussen lassen, etwa wenn es um die lange Zeit und teilweise noch immer vorherrschenden Bilder der Wiener und Berliner Moderne oder auch um die oben genannten Schlagworte des Symbolismus oder der Décadence geht. Denn Bahr kommentiert und dokumentiert die Debatten um die Jahrhundertwende nicht nur, er wirkt auch an der Fortschreibung bestimmter Vorstellungen mit; dies tut er auch in seinen Darlegungen zum (modernen) Künstlertum – man denke nur an das von ihm geprägte Bild des jungen Hofmannsthal/Loris. So greifen nicht nur Ola Hanson und Otto Brahm sein Bild vom Künstler-Kritiker auf und verbreiten es, indem sie es unter Rückgriff auf die bei Bahr gefundenen Formeln weiterschreiben. Auch in Thomas Manns Schriften findet sich die Vorstellung des Künstler-Kritiker-Dilettanten, die sich direkt auf Bahrs Einfluss zurückführen lässt – nicht zufällig bezeichnet sich Mann Mitte der 1890er Jahre als „Bahrianer“. Die Frage modernen Künstlertums wird ab der Mitte des 19. Jhs dringlich und intensiv in Europa verhandelt, diskutiert wird u.a., ob Kunst sich einem unbewusst-rauschhaften Schaffen verdankt oder aus einem Akt der Reflexion hervorgeht. Innerhalb dieser opponierenden Grundannahmen lassen sich auch Bahrs Äußerungen zum Künstler verorten, systematisiert man die Vielzahl von Künstlerbildern, die in seinen Schriften vorliegen. Sie entstehen im Rückgriff auf unterschiedliche Autoren und in verschiedenen Diskursfeldern, in denen Bahr sich bewegt. Er überschreitet dabei zugleich die Grenzen der Disziplinen, wenn er bspw. Denkmuster der Nationalökonomie auf Probleme der Ästhetik überträgt. Nicht zuletzt soll Bahr auch als ein früher Vertreter der Kunstsoziologie vorgestellt werden. Bahr setzt seine Äußerungen zum Künstler darüber hinaus auch in den publizistisch ausgetragenen Richtungskämpfen um die vorherrschende literarische Form ein, mit denen er zugleich das Phänomen der Moderne zu umkreisen versucht; so nutzt er den Dualismus von „wirklichem“ und „unechtem“ Künstlertum, wenn er seine Bilder einer Wiener und einer Berliner Moderne entwirft (und auf diesem Weg die Berliner Moderne abwertet). Somit sollen Bahrs Kritiken auch unter dem Gesichtspunkt von Kämpfen um Deutungshoheit betrachtet werden und das strategische Potential beleuchtet werden, mit dem Momente der Legitimierung und Kanonisierung des modernen Künstlers und Kritikers bzw. Bahrs selbst einhergehen. Denn Bahrs ambivalente Haltung zum modernen Künstlertum hängt nicht zuletzt mit seiner eigenen Erfahrung und Selbstbestimmung im Schnittpunkt zwischen Künstler und Kritiker zusammen. Die Untersuchung soll somit zum Selbst- und Fremdverständnis modernen Künstlertums um die Jahrhundertwende beitragen.
The dissertation focuses on Austrian literary and art critic Hermann Bahr’s writings on aesthetic and cultural theory. Bahr has decisively left his mark on the discourses on the specifics of modern art, the modern artist, and the modern critic that developed at the turn of the century. Systematically compiling and meticulously exploring a multiplicity of terms and notions relating to modern art, Bahr effectively conveyed these concepts and made them generally known to the public; Bahr therefore has, at least implicitly, influenced contemplations on modern art and the relationship between art and art criticism up to today. Research on Bahr has first and foremost described him as an art critic reacting fast to contemporary aesthetic developments and hence quickly but thoroughly recording the key notions of literary and artistic movements at the fin de siècle. Consequently, only due to the publication of Bahr’s articles on terms such as décadence and symbolism, a greater public got acquainted with these concepts. What is even more important, through Bahr’s writings, German writers including Hofmannsthal and Thomas and Heinrich Mann learned about new literary conceptions and European artists and authors that had been unknown in Germany and Austria till then. The fact that Bahr, in particular at the beginning of his career as a critic, had a good eye for and sharpened awareness of decisive movements in arts and literature has made him an authority frequently quoted in analyses of turn-of- the-century arts and literature. Although current research emphasizes that Bahr’s influence on individual authors associated with the literary group “Junges Wien” (Young Vienna) should not be overestimated (according to Jacques Le Rider), one should, in turn, not underestimate Bahr’s massive impact on literary studies, for example with regard to lingering and prevalent conceptualizations of Viennese or Berlin modernisms, or regarding the keywords symbolism and décadence mentioned previously. For not only does Bahr reveal and comment on fin de siècle aesthetic debates, but he also contributes to the perpetuation of certain ideas, for instance in his explications on the modern artist that indelibly marked the picture of Hofmannsthal or Loris as young artists. Accordingly, not only Ola Hanson and Otto Brahm take up and disseminate Bahr’s image of the artist-as-critic by rewriting Bahr’s corresponding formulas. The notion of the dilettante artist-as-critic can equally be found in Thomas Mann’s writings, which can be directly attributed to Bahr’s influence on Mann – it is no coincidence that Mann designates himself a “Bahrian” in the mid-1890s. From the mid-nineteenth century onwards, critics have intensely disputed and negotiated the definition of the modern artist in Europe, discussing, inter alia, art as the outcome of an unconscious process of Dionysian creative activity or as resulting from an act of reflection. Having systematized the multiple approaches to the artist elaborated on in Bahr’s writings, one can situate Bahr’s comments on the artist within these opposing basic assumptions. Bahr develops his images of the artist referring to different authors as well as to diverse discourses and simultaneously transgresses disciplinary boundaries, for example, by transferring macroeconomic patterns of thought to the realm of aesthetics. Last but by no means least, this project introduces Bahr as an early thinker within the field of the sociology of arts. In addition, Bahr uses his concepts of the artist in definitional disputes over the prevailing literary form that is hotly debated in contemporary publications. Bahr here, at the same time, attempts to describe the phenomenon of modernity and thus takes advantage of the dualism of the “true” and the “false” artist to devise his notions of Viennese and Berlin modernism (and to devalue Berlin modernism). As a consequence, this dissertation will analyze Bahr’s criticism in the context of struggles for interpretive authority and will shed light on the strategic potential that is closely entwined with the legitimization and canonization of both the modern artist and critic as well as of Bahr as a critic himself. For Bahr’s ambivalent perspective on the modern artist correlates with his own experiences and self-definition in-between artist and critic. This dissertation therefore will expound on self-descriptions as well as on allo- representations of the modern artist at the turn of the century.