Nordindische Kunstmusik, oft auch als klassische nordindische Musik oder Hindustani Sangit bezeichnet, gilt als Paradebeispiel improvisierter Musik. Um zu einem ernst zu nehmenden Konzertmusiker heranzureifen, wird ein Ausbildungszeitraum von zwölf bis zwanzig Jahren veranschlagt. Unabhängig vom Niveau des Schülers folgt der Instrumental- bzw. Vokalunterricht hierbei einem weitgehend gleichbleibenden Schema, das darin besteht, durch strikte Imitation des Lehrers die melodischen und rhythmisch-metrischen Modelle (Raga und Tala) anhand charakteristischer Phrasen und Kompositionen kennenzulernen. Improvisation spielt im Unterrichtskontext nicht nur keine Rolle, entsprechende Vorstöße werden vom Lehrer üblicherweise sogar strikt unterbunden. Zugespitzt formuliert wiederholen und üben Schüler nordindischer Kunstmusik über Jahre hinweg vorkomponiertes Material und treten schließlich extensiv improvisierend vor ein Publikum, ohne dies jemals gelernt zu haben. Diesen offenkundigen Widerspruch zu enträtseln, stellt das zentrale Anliegen der Untersuchung dar. Die drastische Diskrepanz zwischen der extensiven Improvisationspraxis im Aufführungskontext und dem völligen Mangel an praktischer und theoretischer Auseinandersetzung mit Improvisation im Unterrichtskontext führt den Autor zu der Leithypothese, dass Improvisation in der nordindischen Kunstmusik durch Prinzipien geleitet wird, die durch den Unterrichtsmodus intuitiv angeeignet und in der Aufführungspraxis ebenso intuitiv angewandt werden. Zunächst wendet sich die Studie den Bedeutungsdimensionen des Improvisationsbegriffs zu und untersucht deren Anwendbarkeit im Kontext der nordindischen Kunstmusik. Der Hauptteil der Arbeit besteht in der vergleichenden Untersuchung der konkreten Unterrichts- und Aufführungspraxis. Die Analyse wird hierbei von der Frage geleitet, welche Regeln oder Prinzipien des Improvisierens wie vermittelt bzw. angewandt werden. Während sich die Unterrichtsanalyse auf Beispiele aus der wissenschaftlichen Literatur und eigene Feldforschungen stützt, basiert die Aufführungsanalyse auf der Transkription einer zu diesem Zweck gefilmten, vollständigen Raga-Aufführung. Die Ergebnisse beider Analysen werden abschließend zusammengeführt und interpretiert.
North-Indian classical music or Hindustani Sangit is considered a prime example of improvised music. It takes twelve to twenty years of intensive studies to become a proficient performer. Independent of the student´s level, the transmission of instrumental and vocal music follows a more or less consistant pattern. The melodic and rythmic-metric models (Raga und Tala) are learnt by imitating the characteristic phrases and compositions sung or played by the teacher. Improvisation is not only avoided during the transmission process, any attempt to alter the given material will usually be cut off by the teacher. In other words: students of North-Indian classical music are imitating and rehearsing precomposed material for years until they finally get on stage to perform primarily improvised music. To unravel this apparent contradiction is the main objective of this study. The dramatic gap between the extensive application of improvisation in performance and the missing occupation with improvisation in transmission practise leads the author to the assumption that improvisation in North-Indian classical music is guided by principles that are intuitively adopted and unconscioulsy applied. At first the study explores different concepts of improvisation in general and examines their applicability in the context of North-Indian classical music. The main part consists of a comparative analysis of concrete transmission and performance situations. While the analysis of the transmission practise is based on examples taken from ethnomusicological literature and own fieldwork experiences, the examination of the performance practise rests on the transcription of a full Raga-performance, filmed for this purpose. Finally, the results are summarized and interpreted.