Das deutsche 19. Jahrhundert stand im Zeichen von intensiven Bestrebungen der Nations- und Nationalstaatsbildung. Ihre mit der historisch verankerten föderativen Tradition verbundenen Herausforderungen führten zum Einsatz emotional geprägter Bewältigungsmittel sowohl zur Kristallisierung einer als einheitlich imaginierten Nation als auch zur inneren Konsolidierung des Kaiserreichs von 1871. Darunter ragten seit dem Humanismus im deutschen Nationsdiskurs fest eingebettete und deshalb re-applizierungsfähige sowie auch durch moderne Deutungseliten neukreierte Mythen hervor. Ihre Bedeutung für die Stiftung von Identität, beruhend auf Konstituenten des deutschen Nationalcharakters wie Ethnos, Sprache, Geschichte, Religion, Recht u. a. stand den politischen und militärischen Vorgängen in nichts nach. Mythen halfen Welt- und Geschichtsbilder zu konstruieren, wirkten aktiv bei der Grundlegung eines kollektiven Gedächtnisses mit und trugen zugleich zur wesentlichen Überexponierung des deutschen Volkes als Träger der Nation und deren Staates bei. Zur Avantgarde nationaler Mythenproduktion und -popularisierung gehörte der Juraprofessor und Erfolgsautor Felix Dahn. Mit seinem umfangreichen wissenschaftlichen, vor allem aber literarischen Werk genoss er enormes Ansehen nicht nur bei der deutschen Leserschaft. Dieses stützte sich nicht so sehr auf die ästhetischen Qualitäten seiner Schriften, sondern in erster Linie auf die Symbiose zwischen der Fundierung historischer Kontinuität und der Heraufbeschwörung von Glanz, aber auch von Untergang verheißender äußerer und innerer Bedrohung des germanisch-deutschen Volkstums in seinen ethnischen Merkmalen und Facetten sowie dessen Staatsgebildes. Markante Topoi bilden dabei die gefährdete deutsche Sprache, die Diskrepanz zwischen nationaler Eigenart und „wesensfremden“ Glaubens- und Rechtsformen mit deren Konsequenzen für die Bewährung des Wilhelminischen Reiches und dessen kulturellen Daseins, die Lebensraumerweiterung und die als Krönung des Kriegers stilisierte Ethik des Heldentums in ihrer Funktion, Garant der Volks- respektive der Staatsexistenz zu sein. Vor diesem Hintergrund setzt sich die Studie mit dem Beitrag Dahns zur Etablierung des mythengestützten Nationalismus im ersten deutschen Nationalstaat zwischen 1871 und 1914 auseinander. Die Erschließung der Semantik und der Wirkungssphären seiner mythischen Schöpfungen versteht sie als semiotische Ermittlung von für Dahns Identitätsstiftungsstrategie konstitutiven Vorstellungen, deren Objekte zeichenartige Sinnträger verschiedenen Ranges (Symbole, Mythen) darstellen. Pragmatisch fasst die Semiotik das Zeichen als eine bilaterale Einheit von Bezeichnendem und Bezeichnetem auf. Sie besteht aus der spezifisch materialisierten Form des „Ausdrucks“ und einem bedeutungstragenden „Inhalt“. In semiotischem Sinne weisen Symbole und Mythen dieselbe dualistische Struktur auf. Deshalb eignet sich das Zeichenmodell als Grundlage ihrer theoretischen Erfassung. Den Mythos als spezifische Textsorte charakterisiert vor allem sein symbolischer Kern. Die Narrativität verbindet das mythische Symbolgebilde genealogisch mit dem hier literarischen Medium seiner Exponierung. Im Unterschied zum Symbol präsentiert der Mythos sein Ideengut nicht piktografisch konzentriert, sondern in der Form fabulierter Erzählung mit ausgeprägtem Zeit-Raum-Kontinuum, welche eine doppelschichtige Struktur erkennen lässt. Die in verschiedenen Episoden unter der Beteiligung agierender Figuren in bestimmter Reihenfolge verlaufende Handlung bildet die Oberflächenstruktur. Für die Semantisierung von Merkmalen (Mythemen) der untereinander kooperierenden oder rivalisierenden Aktanten ist die Tiefenstruktur maßgeblich, auf deren Ebene die handelnden Gestalten als Protagonisten bzw. Antagonisten auftreten. Trotz verschiedener Verflechtungen der mythischen Narrationen im Kaiserreich ist eher von diskursiv koexistierenden Mythen als von einer Mythologie im klassischen Sinne zu sprechen. Es werden in Mythologemen gebündelte Mythenstränge zusammengelegt. Als Mythologem bezeichnet diese Untersuchung von Dahns Mythen ein, auf der wiederkehrenden Aufeinanderbeziehung emblematischer Symbole und Mytheme beruhendes Organisationsprinzip, das Mythensysteme mit symbolsemantisch konstruierten Gefügen benennen lässt. In genremäßig unterschiedlichen Texten gelang es Dahn, eine zu nationalistischen Erziehungszwecken einsetzbare mythische Konstruktion mit identitätsstiftender Semantik aufzubauen, deren tragende Elemente zwei Hauptstränge von aufeinander bezogenen fundierenden Mythen aufweisen. Ihre signifikante, mit dem Ethnischen verbundene Blut- respektive für das Kriegerische stehende Eisen-Komponenten beinhaltende Symbol- und Mythem-Substanz, welche anhand der Oberflächen- und Tiefenstrukturen von artifizierten Varianten des Germanenmythos sowie der Mythisierung zeitgeschichtlicher preußischer Personen und Ereignisse mithilfe semiotisch-strukturalistisch orientierter Analysestrategie expliziert wird, ermöglicht die Identifizierung eines diese Mythen zusammenfügenden Mythologems. Es verleiht jener in der Verkettung des germanisch-deutschen Geschichts- und Identitätsbewusstseins mit der heldenhaften Opferbereitschaft für Volk und Staat wurzelnden Mythenwelt des Nationalstaats einen Systemcharakter. Die fokussierte biographische Thematisierung sowie die Erörterung von Dahns philosophischer, politischer und ideologischer Anschauung dient der Orientierung hinsichtlich der schwierigen Einordnung seines Ideenguts und „Blut und Eisen“-Mythologems in das Ideologie-Spektrum des Kaiserreichs. Dahns führende Rolle als herausragender Exponent der Mythisierung des Nationalen für die konstruktivistische Erfindung von nationalen Imaginationen und Identitätsmustern, aber auch sein Engagement bei ihrer Propagierung werden an der intensiven und nachhaltigen zeitgenössischen Rezeption verifiziert. Die Kritik an dessen weitgehend dem Zeitgeist bzw. den Erwartungen des breiten Publikums entsprechenden Gesinnung, die ideologischen Vereinnahmungsversuche und die eigene Verwahrung dagegen deuten auf eine massive und anhaltende Wirkung des durch ihn elaborierten Mythologems hin. Die pointierte Topographierung der Kompatibilität und Divergenz seiner Ansichten mit den ideologischen Fundamenten der sich von den 1890er Jahren an formierenden, breitgefächerten völkischen Bewegung veranschaulicht es, dass der sich in Freikonservatismus transformierende Nationalliberalismus Dahns und sein Deutschtum ihn innerhalb des zwischen Patriotismus und völkischem Radikalismus oszillierenden wilhelminischen Nationalismusdiskurses im Bereich einer auf Sicherstellung des Volks- und Staatserhalts bedachten gemäßigteren nationalistischen Volkstumsideologie verankern ließen.