In Deutschland ist die Kernenergie eine Technologie, die starke emotionale Reaktionen hervorruft. Die Argumente für und gegen ihre Nutzung reichen von der emissionsarmen und kontinuierlichen Energieerzeugung bis zu den lokalen Auswirkungen des Uranabbaus, gesundheitlichen Risiken und ungelösten technischen Herausforderungen. Trotz des Ausstiegs aus der kommerziellen Kernenergie im April 2023 bleibt v.a. eine drängende Frage: die sichere Entsorgung hochradioaktiver Reststoffe. Nach dem Standortauswahlgesetz in Deutschland muss die Lagerung für eine Million Jahre sicher sein. Dieser immense Zeitraum wird die Lebensspanne von Menschen umfassen, die diese Reststoffe nicht erzeugt haben, aber potenziell mit den Auswirkungen der Entsorgung leben müssen. Daher stellt sich die Frage, ob in Bezug auf hochradioaktive Reststoffe überhaupt von gerechtem Handeln gesprochen werden kann. Um dieser Frage näherzukommen, wurde in dieser Arbeit eine umfassende Literaturrecherche zu den theoretischen Grundlagen, zeitgenössischen Theorien und Dimensionen der Gerechtigkeit durchgeführt. Die meisten Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf universelle Gerechtigkeitstheorien, die für alle Menschen und zu allen Zeiten gelten sollen. Um neue Erkenntnisse zu gewinnen, wurde der Ansatz der ‚Existenzweisen‘ von Bruno Latour verwendet, der eine bislang ungenutzte und individuelle Perspektive eröffnet, die von den bisherigen Paradigmen der Gerechtigkeitsforschung abweicht. Zur empirischen Fundierung wurden zwei quantitative Erhebungen durchgeführt: Erstens eine Grundlagenstudie, um allgemeine Aspekte des Gerechtigkeitsempfinden zu untersuchen, und zweitens eine Vertiefungsstudie, bei der die wahrgenommene Gerechtigkeit von nuklearer Entsorgung anhand konkreter, fiktiver Vignetten untersucht wurde.