dc.description.abstract
Die Dissertation erschließt systematisch das in der kunsthistorischen Forschung bisher unterrepräsentierte Phänomen der fotografischen Re-Inszenierung bildender Kunst im Social Web. Dies geschieht unter besonderer Berücksichtigung der Interpikturalität, d. h. der Relationen von Original und Kopie bzw. Vorbild und Nachbild. Das Korpus bilden 257 Fotografien, die Internet-User*innen im Rahmen des vom kanadischen Kunstblog „Booooooom“ 2011 ausgetragenen „Remake“-Wettbewerbs zur Re-Inszenierung berühmter Kunstwerke anfertigten. Bei der Auswahl ihrer Vorbilder stechen Werke des 20. Jahrhunderts hervor, die in ausgewogener Nähe und Distanz zur Lebensrealität der Fotograf*innen stehen. Daneben häufen sich Werke des Barocks und der Renaissance, d. h. jener Epochen, die die meisten ,Ikonen‘ der (europäisch geprägten) Kunstgeschichte hervorgebracht haben. Diese sind im Internet überdurchschnittlich präsent und haben bereits zahlreiche Variationen erfahren, die die erneute Re-Inszenierung wohl niedrigschwelliger erscheinen lassen. Vereinzelt werden auch unbekanntere Werke ausgewählt, vermutlich aufgrund der geringeren ,Fallhöhe‘. Auffällig ist daneben der Fokus auf malerische Vorbilder, die durch die fotografische Transformation eine besonders prägnante ,Verlebendigung‘ erfahren. Motivisch überwiegen figurative Darstellungen, die eine persönliche Auseinandersetzung nahelegen, wobei der Kontrast zwischen alltäglichen (nahbaren) und berühmten (bewunderten) Personen ins Auge sticht. Schließlich häufen sich Werke, die als enigmatisch zu beschreiben sind und somit Leerstellen für die eigene Interpretation anbieten. Diese Beobachtungen können als Indizien für die Entwicklung des kunsthistorischen Kanons gelesen werden, der aufgrund der wachsenden Bedeutung des Social Web als Ort der Produktion, Präsentation und Rezeption von Kunst auch durch digitale Bildpraktiken geprägt wird. Die besondere Eignung eines Kunstwerks zur Re-Inszenierung tritt hier als neues Kriterium für seine kanonische Beständigkeit hinzu.
Die Untersuchung der Remake-Fotografien fokussiert zunächst die ,einfachen‘ Bildbezüge zwischen Vorbild und Nachbild. Diese gehen in einen gemeinsamen fotografischen Bildraum ein, verschmelzen aber nicht zu einer hybriden Einheit, sondern existieren in Kopräsenz und bleiben auf diese Weise vergleichbar. Hier zeigt sich eine palimpsestartige Struktur, die mit medialen und motivischen Strategien erreicht wird. Diese können den Kategorien Nachahmung, Aneignung, Aktualisierung, Zuspitzung und Inversion zugeordnet werden. Daneben wohnen den Fotografien ,mehrfache‘ Bezüge inne, d. h. Bildverbindungen, die über die einzelnen Kunstwerke als unmittelbare Vorbilder hinausgehen. Schon diese sind oftmals als rekursiv zu bezeichnen, da sie eigene Re-Inszenierungsgeschichten aufweisen, die die Remake-Fotografien um weiter zurückliegende Vorbilder anreichern. Hinzu treten das individuelle wie kollektive Bildgedächtnis, deren Einfluss auf die Produktion und Rezeption der Fotografien in Anbetracht des durch Re-Inszenierungen bereits angeregten Vergleichs- bzw. Erinnerungsmodus naheliegt. Daneben spielt die visuelle Infrastruktur des Social Web eine Rolle, die Bilder zumeist im Verbund präsentiert. Hier bilden sich variable ,Hyperimages‘, die über die Einzelbilder hinausgehende Bedeutungen generieren. Schließlich lassen sich Fortführungen konstatieren, d. h. Re-Inszenierungen der Remake-Fotografien, die die Dynamik und Grenzenlosigkeit der angestoßenen Prozesse verdeutlichen. Die Vor- und Nachbilder müssen daher vielmehr als Zwischenbilder beschrieben werden, die mit der Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen in Verbindung treten. Hier zeigt sich ein rhizomatisches Rekursgeflecht, das klassische Chronologien und Hierarchien der künstlerischen Re-Inszenierung neu verhandelt. Somit wird auch das (sogenannte) Original einem steten Wandel unterworfen und mit immer neuen Perspektiven angereichert.
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