dc.description.abstract
Dem Phänomen der schweren zielgerichteten Schulgewalt wurde über die letzten zwei Jahrzehnte ein breites wissenschaftliches Interesse entgegengebracht. Dabei verfolge die Analyse möglicher Ursachen und Entstehungsbedingungen der potentiell tödlichen Gewaltakte durch eine/n (ehemalige/n) Schüler/in an ihrer/seiner Schule (Bondü & Scheithauer, 2014) unter anderem den Zweck, evidenzbasierte Präventions- und Interventionskonzepte für Schulen zu entwickeln. Neben Risikofaktoren-Modellen und monokausalen Erklärungsmustern auf der Grundlage retrospektiver Fallstudien, entstanden mit der Zeit zunehmend elabo-riertere Ansätze in Form von multikausalen Entwicklungsmodellen sowie komparativen Untersuchungen im Kontext geplanter, expressiver Taten im öffentlichen Raum.
In der Auseinandersetzung mit der Fülle an wissenschaftlichen Studien zum Phänomenbereich muss jedoch konstatiert werden, dass nur wenige systematische oder theoretisch gehaltvolle Ansätze unter den etablierten Erklärungsmodellen zu finden sind und relevante kriminalätiologische sowie präventionswissenschaftliche Fragestellungen weiterhin offen bleiben (Grøndahl & Bjørkly, 2016). Zudem führt die unklare definitorische Umgrenzung der Gewaltform, der erschwerte Zugang zu validen Daten sowie das vergleichsweise geringe Fallaufkommen zu methodischen Einschränkungen und teils widersprüchlichen Befunden.
Da es sich bei schwerer zielgerichteter Schulgewalt um geplante Taten handelt, denen eine mitunter jahrelange krisenhafte Entwicklung der Täter/innen vorausging und die eng mit der Lebensphase der Adoleszenz verknüpft ist (Leuschner et al., 2011; Vossekuil et al., 2002), erscheint es sinnvoll, ein methodisches Vorgehen zu wählen, innerhalb dessen zeitdynamische Aspekte und entwicklungspsychologische Erklärungsansätze Berücksichtigung finden. Mit dem Ziel, das Wissen um ursächliche Entstehungsbedingungen der spezifischen Gewaltform zu erweitern, um in der Folge spezifische Präventions- und Interventi-onsmaßnahmen zu formulieren, wurden innerhalb der drei der Dissertationsschrift zugrunde-liegenden Studien daher die krisenhaften Entwicklungsverläufe gefährdeter Schüler/innen bzw. späterer Täter/innen selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht.
Aufbauend auf Daten aus den durch das Bundesministerium für Bildung und For-schung geförderten Projekten NETWorks Against School Shootings (NETWASS) und Tat- und Fallanalysen hochexpressiver Gewalttaten (TARGET) wurden in den Artikeln folgende Fragestellungen bearbeitet: 1) Mit welchen Indikatoren einer krisenhaften Entwicklung sind Schulmitarbeiter/innen konfrontiert und mit welchen Maßnahmen reagieren sie auf diese Prozesse bei ihren Schüler/innen?, 2) Welche (sozialen) Risikofaktoren spielen im Entwicklungsprozess der Täter/innen schwerer zielgerichteter Schulgewalt eine entscheidende Rolle?, 3) Welche den Risikofaktoren zugrundeliegenden psychologischen und sozialen Mechanismen tragen zu der krisenhaften Entwicklung der Täter/innen hin zu einer schweren zielgerichteten Schulgewalt bei? Lassen sich distinkte Entwicklungsverläufe und differenzierende Faktoren in den Entwicklungsverläufen der Täter/innen finden?
Die erste in vorliegender Dissertationsschrift vorgestellte Studie Strukturen zur Identifikation, Bewertung und Intervention krisenhafter Entwicklungen im Kindes- und Jugendalter näherte sich krisenhaften Entwicklungsverläufen von Schüler/innen mit Hilfe eines prospektiven Zugangs. Durch die inhaltsanalytische Auswertung qualitativen Materials, das im Zuge der Prozessevaluation des NETWASS-Projekts an Schulen generiert wurde, konnte nachvollzogen werden, mit welchen Krisenindikatoren und Belastungsfaktoren Schulmitarbeiter/innen konfrontiert sind und wie sie darauf reagieren. Die Analysen wiesen auf ein he-terogenes Fallspektrum hin, wobei am häufigsten von Krisenindikatoren innerhalb sozialer Dynamiken (z.B. Bullying, verbale und körperliche Aggression) berichtet wurde. Basierend auf theoretisch formulierten Kategorien ließen sich darüber hinaus drei Risikogruppen ableiten, die mit den durch die Schulmitarbeiter/innen initiierten Maßnahmen in Verbindung gebracht werden konnten.
Im Rahmen des zweiten Artikels Bullying, Romantic Rejection, and Conflicts with Teachers: The Crucial Role of Social Dynamics in the Development of School Shootings – A Systematic Review erfolgte eine systematische Literaturanalyse von insgesamt 35 Primärstudien, die über einen retrospektiven Zugang Daten über schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen bereitstellten. Insgesamt ließen sich ausführliche Informationen über soziale Dynamiken in der Vorfeldentwicklung von 67 Täter/innen zusammenstellen, die mit Hilfe eines inhaltsanalytischen, vorwiegenden quantitativen Vorgehens ausgewertet wurden. Im Ergebnis wurde unter anderem deutlich, dass eine isolierte Betrachtung des komplexen Wechsel-spiels verschiedener funktional äquivalenter, dynamischer Faktoren über die Zeit unzureichend ist und es für die Auseinandersetzung mit krisenhaften Verläufen in Richtung einer schweren Gewalttat eines zeitsensiblen methodischen Vorgehens bedarf.
Im dritten innerhalb der Dissertation vorgelegten Artikel The Role of Shame in Developmental Trajectories towards Severe Targeted School Violence: An In-Depth Multiple Case Study wurde über die Rekonstruktion und qualitativen Analyse der Biografien von 19 deutschen Täter/innen schwerer zielgerichteter Schulgewalt ein Modell dargestellt, welches zum Verständnis der Entwicklungsdynamiken entwicklungs- und emotionspsychologische sowie soziologische Theorien berücksichtigte. Während sich in allen krisenhaften Verläufen psychologische Wendepunkte mit assoziierten intensiven Schamgefühlen rekonstruieren ließen, zeigten sich zwei distinkte Wege der Bewältigung dieser Gefühle. Weiterhin konnten durch die Analyse entwicklungsdynamische Variablen herausgearbeitet werden, die zur Erklärung der sukzessiven Hinwendung zur Gewalttat als entscheidende Wirkmechanismen interpretiert werden können.
Die Ergebnisse der drei Forschungsartikel führen zu der Ableitung methodischer, kriminalätiologischer sowie präventionswissenschaftlicher Implikationen im Kontext der schweren zielgerichteten Gewalt an Schulen:
Zum einen wurde deutlich, dass sich längsschnittliche Fallstudien innerhalb eines qualitativen, entwicklungspsychologischen Designs eignen, um der Komplexität der einzelnen Entwicklungskontexte sowie individueller Veränderungen über die Zeit ausreichend zu begegnen. Die vorgestellte methodische Strategie der Sequentialisierung krisenhafter Entwicklungsverläufe mit der Identifikation relevanter biografischer Wendepunkte sowie zeit-sensibler psychologischer und sozialer Mechanismen, sollte daher innerhalb zukünftiger Studien im Bereich der qualitativen Entwicklungspsychologie Berücksichtigung finden.
Zudem ermöglichen die Studienergebnisse durch die theoretische Fundierung des empirischen Materials die weitere Ausdifferenzierung und Validierung bereits etablierter Entwicklungsmodelle (Scheithauer et al., 2014). Indem die krisenhaften Entwicklungsverläufe mit soziologischen sowie emotions- und entwicklungspsychologischen Ansätzen in Bezug gesetzt wurden (Marcia, 2006; Reisenzein, 2009; Scheff, 2011; Scheff & Retzinger, 1991; Schützeichel, 2012; Spiegel & Alpert, 2000), ließ sich ein tiefergehendes Verständnis für die Entwicklungsdynamik der Gewalttat herstellen. So wurde deutlich, dass die spezifische Interaktion psychologischer und sozialer Mechanismen (z.B. unkommunizierte Schamgefühle) sowie zeitlich-chronologischer Aspekte (z.B. sensible Zeitfenster) krisenhafte Entwicklungsverläufe initiieren und begleiten können. Darüber hinaus konnte der Befund bestätigt werden, dass es sich bei schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen weniger um eine in sich homogene Kategorie handelt, sondern sich eine Reihe von substantiellen Überschneidungen mit anderen Gewaltformen im öffentlichen Raum (z.B. terroristische Anschläge) finden lassen.
Zuletzt lassen sich auf Grundlage der drei Studien Ableitungen für die Modifikation und Erweiterung des NETWASS-Krisenpräventionsverfahrens für Schulen (Scheithauer et al., 2014) treffen sowie spezifische Präventionsstrategien und konkrete Maßnahmen im Bereich der Krisen- und Gewaltprävention formulieren. Für die Informationsvermittlung an Schulen erscheint es wichtig, verstärkt auf das Potential früher Interventionen und Hilfsangebote hinzuweisen, die Relevanz eines engen Fallmonitorings über einen längeren Zeitraum hervorzuheben und für die subjektive Perspektive und individuelle Verarbeitungsstrategie des/der betreffenden Schüler/in zu sensibilisieren. Da sich krisenhafte Entwicklungsverläufe ähnlich wie Radikalisierungstendenzen im politisch-religiösen Spektrum als adoleszente Identitäts- und Orientierungssuche, Coping-Strategie nach wahrgenommenem Unrecht oder Motivation einer bestimmten Gruppe anzugehören, konzeptualisieren lassen (Böckler et al., 2018a), ist darüber hinaus eine phänomenübergreifende Prävention indiziert. Hinsichtlich konkreter Maßnahmen im Kontext der Krisen- und Gewaltprävention können auf Grundlage der Studienergebnisse Interventionen aus dem Bereich des funktionalen Scham-Managements bzw. des Restorative Justice empfohlen werden (Ahmed, 2008).
Im Rahmen der vorgestellten Dissertationsschrift wurde dargestellt, dass ein Zugang zum tieferen Verständnis der Entstehungsbedingungen und Ursachen der spezifischen Gewaltform über die differenzierte retro- sowie prospektive Auseinandersetzung mit krisenhaften Entwicklungsverläufen von Schüler/innen und Täter/innen gelingt. Durch die Identifikation spezifischer zeitdynamischer, sozialer sowie psychologischer Wirkzusammenhänge lassen sich konkrete präventive Strategien im Umgang mit schwerer zielgerichteter Gewalt an Schulen formulieren.
de