Viele Krankheiten führen zu sozialer Isolation. Eine jedoch ist geradezu der Inbegriff von Ausgrenzung: die Lepra. Die durch M. leprae hervorgerufene Infektionskrankheit kann – wenn nicht rechtzeitig antibiotisch behandelt – zu stark stigmatisierenden Veränderungen des Gesichtes und der Extremitäten führen. Den sozialen Folgen der Lepra ist somit eine ebenso hohe Bedeutung einzuräumen, wie dem körperlichen Leiden. Die räumliche Isolation Leprakranker wurde schon im Alten Testament vorgeschrieben – in Brasilien war sie noch bis 1962 gesetzlich verordnet. Einige ehemalige Leprakolonien werden noch immer bewohnt – so auch das 1928 eingerichtete, staatlich verwaltete „Zentrum des Zusammenlebens Antônio Diogo“ (CCAD) im brasilianischen Bundesstaat Ceará, obwohl es den Bewohnern seit 1981 erlaubt ist, die Einrichtung zu verlassen. Eine strukturierte Erfassung der Lebensumstände und der sozialen Exklusion in den ehemaligen Leprakolonien Brasiliens liegt bisher nicht vor. Die vorliegende Studie mit interdisziplinärem Ansatz untersucht die Lebenssituation und die subjektiv wahrgenommenen sozialen Einschränkungen der ehemals leprakranken Bewohner unter Anwendung quantitativer und qualitativer Methoden. Zur sozio-demographischen und klinischen Charakterisierung der ehemals leprakranken Bewohner wurden selbstentwickelte Frage- und Dokumentationsbögen eingesetzt. Die subjektiven sozialen Einschränkungen wurden mittels der Partizipations-Skala (P-Skala, van Brakel 2006) quantifiziert. Durch Fokusgruppendiskussionen wurden für die Betroffenen relevante Themen und Konflikte erfasst. Die 90 ehemaligen Leprakranken waren bedeutend älter als die 86 nicht von Lepra betroffenen Bewohner des CCAD (Median: 64,5 bzw. 16,0 Jahre, p < 0,001). Zwei Drittel der ehemaligen Leprakranken lebten in Häusern, ein Drittel in Pflegeunterkünften auf dem von einer Mauer umgebenen Gelände. Alle waren von der Lepra geheilt. Da die meisten Befragten eine staatliche Rente erhielten, stand ihnen mehr Geld zur Verfügung als dem durchschnittlichen Einwohner Cearás. Die Schulbildung war sehr niedrig, was der allgemein schlechten Bildungslage älterer Menschen Cearás entsprach. Ein Drittel der Befragten hatte keinen Kontakt zur Familie außerhalb des CCAD. Die ehemaligen Leprakranken zeigten in 72,7% sichtbare körperliche Folgen der Lepra. Bei der Anwendung der P-Skala wiesen 51,9% eine subjektive Partizipationseinschränkung auf (P-Index > 12), die Hauptprobleme lagen in den Bereichen Arbeit, Mobilität und soziale Aktivitäten. Positiv korreliert mit dem P-Index waren: Stärke und Anzahl der sichtbaren körperlichen Veränderungen (p = 0,001), der Aufenthalt in einer Pflegeunterkunft (p = 0,001), der Zeitpunkt der Diagnose vor 1982 (p = 0,002) und kein regelmäßiger Besuchsempfang (p = 0,004). Alter, Geschlecht, Einkommen, Partnerschaft und Aufenthaltsdauer im CCAD korrelierten nicht signifikant mit dem P-Index. In den Fokusgruppeninterviews mit 17 ehemals leprakranken Bewohnern wurden die Gründe für das Wohnen im CCAD, Freiheit, Alltag, Familie, Stigma/Vorurteile und der Umgang mit Krankheit und Kränkung zum Teil kontrovers diskutiert. Das CCAD wurde von einigen Teilnehmern als Schutz- und Ruheraum vor einer bedrohlichen Außenwelt angesehen, während andere die Langeweile beklagten und sich mehr Aktivität und Kontakt mit Außenstehenden wünschten. Der Zugewinn an Freiheit nach Öffnung der Einrichtung wurde dem Verlust von Sicherheit gegenüber gestellt. Einerseits wurden der Erhalt einer Rente, die kostenlose Unterkunft und medizinische Versorgung als Vorteile gegenüber der Normalbevölkerung gesehen. Andererseits wurden gesellschaftliche Vorurteile und Benachteiligungen, z.B. bei der Arbeitssuche, hervorgehoben. An emotionalen Reaktionen auf Diskriminierungen wurden Resignation, Wut und Verzweiflung geäußert. Die Interviews zeigten eine ablehnende Haltung gegenüber der Verwaltung bei gleichzeitiger Abhängigkeit im Sinne einer paternalistischen Beziehung. Der Umgang mit Stigmatisierungen in der Öffentlichkeit reichte von sozialem Rückzug und Täuschung bis zu offenem, selbstbewussten Auftreten. Nach der Exklusion aus den primären Familienstrukturen haben viele Bewohner im CCAD neue Familien gegründet. Die starke Identifikation mit der Einrichtung und die deutliche Aufteilung in „hier drinnen“ und „da draußen“ zeigte, dass eine Integration trotz Öffnung des CCAD und Zuzug von Familienangehörigen für viele Bewohner nicht statt gefunden hatte. Maßnahmen zur Rehabilitation sollten verstärkt in den Bereichen Arbeit, Mobilität und soziale Aktivitäten implementiert werden. Das Gefühl, innerhalb der Gemeinschaft respektiert zu werden, lässt auf ein gutes Potenzial zur Selbstorganisation und Selbstbehauptung der Betroffenen schließen, worin die Bewohner im Sinne des Empowerments zu unterstützen sind. Bereits bestehende Strukturen wie MORHAN und die Bewohnerversammlung können einen geeigneten Rahmen bieten. Insgesamt zeigt die vorliegende Studie, dass die Lepra auch lange nach Heilung für die Bewohner des CCAD noch ein bestimmendes Element ihres Lebens ist. Die Krankheit hat nicht nur ihre Biographie verändert, sie bewirkt noch bis heute Einschränkungen im gesellschaftlichen Leben und ist das verbindende Element der engeren Bezugsgruppe. Im Sinne der Gesundheitsdefinition der WHO muss die soziale Rehabilitation der Bewohner ehemaliger Leprakolonien als wichtiger Teil der Therapie angesehen werden.
Many diseases lead to social exclusion – but one is even used as a metaphor for isolation: leprosy. This infectious disease provoked by Mycobacterium leprae may – if not treated in early stage – cause strongly stigmatizing alterations of the face and extremities. Therefore, social consequences of leprosy should be considered as important as the physical condition. The isolation of leprosy patients was already stipulated in the Old Testament – in Brazil it was dictated by law until 1962. Some of the former leprosy colonies are still inhabited today. One of these institutions is the “Center of Living together” (CCAD) inaugurated in 1928 in the Brazilian state Ceará, although the residents are free to leave the center since 1981. So far, a structured investigation on life circumstances and social exclusion of the inhabitants of former leprosy colonies in Brazil does not exist. This study with interdisciplinary approach explores life situation and perceived social exclusion of the persons affected by leprosy living in the former leprosy colony by use of quantitative and qualitative methods. To characterize the inhabitants of the CCAD, socio-demographic questionnaires and clinical documentation sheets were applied. Social restriction was measured with the Participation Scale (P-Scale). Relevant life aspects and conflicts were grasped in Focus Group Discussions (FGD). The 90 former leprosy patients in the CCAD were by far older than the 86 non-leprosy-affected residents (median: 64.5 years vs. 16 years, p<0.001). Two third of the former patients lived in little houses and one third in the nursery homes on the grounds of the CCAD. At the time of the study, there was no active case of leprosy in the CCAD. Questionnaire data was obtained from 77 out of the 90 former leprosy patients. As most of them received a state pension, they were not considered poor compared to the population of Ceará. One third of the interviewees had no contact with family members outside the CCAD. Visible physical alterations were documented in 72.7% of the study participants. The P-Scale showed a significant level of social participation restriction in more than half of the persons. The main problems were found in the areas of work, mobility and social activities. The score of the P-Scale (P-Index) was significantly correlated with the severity of physical alterations (p = 0.001), residency in a nursery unit (p = 0.001), time of diagnosis before 1982 (p = 0.002) and receiving no visitors (p = 0.004). Age, sex, income, having a partner and time of residency in the CCAD were not significantly correlated with social restriction. The 17 participants of the FGD discussed motives for living in the CCAD, freedom, every-day life, stigmatization/prejudice and coping with the consequences of the disease. The CCAD was seen as a safe and quiet place by some, while others criticized boredom and expressed the wish for more activity and contact with persons from outside. On one hand, free housing, pension and medical care were named as advantages compared to the “normal” population, on the other hand the participants reported experiences of prejudice and social discrimination. Emotional reactions to humiliation in society included anger, resignation and despair. The interviews showed rejection of the administration personnel with concurrent dependence in the sense of a paternalistic relationship. Coping with stigmatization in public ranged from deception or social withdrawal to open, self-assured behavior. After having been excluded from original family structures, many inhabitants founded new families inside the CCAD. The strong identification with the institution and the clear categories of “us inside” and “those outside” shows that reintegration into society has not been fully successful yet. Rehabilitation measures should be implemented especially in the areas work, mobility and social activities. The feeling of the residents to be respected in the closer community reveals a good potential for self-organization that should be supported in the sense of empowerment. Already existing structures like MORHAN (Movement for the reintegration of leprosy-affected persons) and the regular residents´ meetings could serve as a base for reintegration. On the whole, the study shows that despite cure leprosy is a dominant life theme for the residents of the CCAD. The disease not only changed their biography and shaped their identity but also still causes restriction in social life and is the linking element of the closer community. In sense of the definition of health by the WHO, social rehabilitation of the inhabitants of former leprosy colonies must be seen as an important part of therapy.