dc.description.abstract
Der Ton macht die Musik – wie etwas gesagt wird, ist mindestens ebenso relevant wie, was gesagt wird. Die Sprachmelodie (Prosodie) transportiert wichtige Informationen innerhalb der zwischen-menschlichen Kommunikation; vor allem emotionale Aspekte werden prosodisch vermittelt. Ein in-haltlich freudiger Satz, vorgetragen mit einer traurigen Intonation, Schluchzen und Seufzen, wird keinen Hörer davon überzeugen, dass der Sprecher freudiger Stimmung ist.
Die Art, wie wir sprechen, reflektiert somit - teilweise unbewusst - unsere Emotionalität.
In der vorliegenden Arbeit wurde die Produktion und Rezeption von Sprachmelodie einer spezifi-schen Bevölkerungsgruppe untersucht: gefühlsblinde Menschen (hoch-alexithyme Menschen). Diese haben Schwierigkeiten, Gefühle zu identifizieren und auszudrücken. In den 1970-er Jahren sind erste Beschreibungen dieses Phänomens veröffentlicht worden – von Psychiatern und Psychotherapeuten, denen auffiel, dass gewisse Patienten ihre Gefühle schlecht äußern konnten. Diese Patienten hatten Probleme, ihre Gefühle in Worte zu fassen und neigten dazu, stattdessen körperliche Begleiterschei-nungen von emotionalen Prozessen zu nennen. Bereits damals wurde u. a. auch die monotone Sprechweise der Betroffenen betont. Das Forschungsinteresse an dem Konstrukt Alexithymie ist je-doch in den folgenden Jahrzehnten abgeflacht und erst im Zuge der emotionalen Wende der Wissen-schaft wieder neu entfacht. Innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte sind viele neue Einsichten in das Alexithymiekonstrukt gewonnen worden, die Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Alexithy-mie steigt von Jahr zu Jahr. Dennoch bleiben noch immer bleiben einige Fragen offen.
Wie beispielsweise die inneren affektiven Prozesse hoch-alexithymer Menschen genau aussehen und ob diese von denen niedrig-alexithymer Menschen abweichen, konnte bis zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht klar beantwortet werden. Fühlen hoch-alexithyme Menschen „anders“ als niedrig-alexithyme oder fühlen sie „gleich“, können ihre Gefühle nur nicht gleichermaßen zum Ausdruck bringen? Physiologische, elektro- und neurophysiologische Befunde kommen zu keinem einheitlichen Ergebnis.
In der vorliegenden Dissertationsarbeit habe ich die Produktion und die Rezeption von Prosodie bei hoch- und niedrig-alexithymen Menschen untersucht. Prosodie dient als Zugang zu unbewussten, affektiven Prozessen der Sprecher. Dabei stütze ich mich auf die These, dass Prosodie bis zu einem gewissen Grad unabhängig ist von kognitiven Regulierungsprozessen und somit einen (relativ) unver-fälschten Zugang zu der Emotionalität eines Sprechers offenbart. Meine Forschungshypothese ist, dass nicht nur die Symbolisierungsebene von Emotionen beeinträchtigt ist, sondern dass hoch-alexithyme Menschen tatsächlich auch „anders empfinden“ als niedrig-alexithyme. Die Untersuchung zur Rezeption soll die ersten Studien zur Produktion vervollständigen, indem hier der Frage nachge-gangen wird, wie Hoch- und Niedrig-alexithyme emotionalprosodische Stimuli bewusst wahrnehmen bzw. beurteilen.
Hiermit möchte ich dazu beitragen, eine Lücke innerhalb der aktuellen psycholinguistischen Ale-xithymieforschung zu schließen – denn die meisten linguistischen Studien, die sich mit Alexithymie auseinandersetzen, wählen einen lexikalischen Ansatz, d. h. sie untersuchen die Verarbeitung (Pro-duktion und Rezeption) von Wörtern. Studien zur Prosodieverarbeitung hingegen sind rar.
Das Dissertationsprojekt ist in zwei Teile unterteilt: die Produktion und die Rezeption von Prosodie. Im ersten Teil (der wiederum in zwei Studien unterteilt ist), geht es um die Frage, wie hoch-alexithyme Menschen Prosodie produzieren, d. h., ob sich die Sprachmelodie hoch-alexithymer Pro-banden von der niedrig-alexithymer Kontrollpersonen unterscheidet oder nicht. Zwar ist bereits in den frühesten Beschreibungen des Alexithymiekonstrukts von einer leblosen und monotonen Sprechweise der Betroffenen die Rede, aber es fehlen bisher ausreichend empirische Untersuchun-gen zur von Hoch-Alexithymen produzierten Prosodie. Da kaum Referenzmöglichkeiten zu anderen Studien bestehen, habe ich einen explorativen Ansatz gewählt und mich darauf beschränkt, die drei wichtigsten prosodischen Parameter zu messen: a) die Intensität, b) die Grundfrequenz und c) die Sprechgeschwindigkeit. Das in Studie 1 und 2 produzierte Sprachmaterial wurde mithilfe einer Soft-ware auf diese drei Parameter hin prosodisch analysiert.
Um die Ergebnisse einordnen zu können, müssen die beiden Studien zur Produktion kurz vorgestellt werden. Für die erste Studie wurde Sprachmaterial verwendet, das bereits von der Projektgruppe „Sprache und Gestik der Alexithymie“ des Exczellenzclusters Languages of Emotion der Freien Uni-versität Berlin erhoben worden war. Innerhalb dieses Projekts waren vier unterschiedliche Interviews mit hoch- und niedrig-alexithymen Probanden durchgeführt worden: a) ein kurzbiographisches Inter-view, in dem die Probanden je von einem für sie persönlich positiven und negativen Ereignis berich-ten sollten; b) ein Interview, in dem bindungsrelevante Zeichnungen beschrieben werden sollten („Adult Attachment Projective“, AAP); c) ein Interview, in dem die Teilnehmer gebeten wurden, ihre eigene Reaktion und die einer anderen Person innerhalb einer Szene zu beschreiben, die ihnen vor-getragen wurde; und schließlich d) ein mündlich durchgeführter Intelligenztest („Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene“; HAWIE). Die ersten drei Interviews behandelten somit emotionale Themen, das letzte war inhaltlich rein kognitiv-rational. Außerdem unterschieden sich die Interviews hinsichtlich der Frage, wie persönlich die Themen waren: Das kurzbiographische Interview behandel-te im Unterschied zu den anderen Interviews persönlich relevante Inhalte.
Während in der ersten Studie Sprache frei produziert wurde, beschäftigt sich die zweite Studie mit kontrolliert produziertem Sprachmaterial, das für die vorliegende Arbeit eigenständig erhoben wur-de. Hier wurden die Probanden gebeten, ihnen visuell dargebotene Sätze (mit emotionalem bzw. neutralem semantischen Gehalt) laut vorzulesen.
Hierbei wurde die Fragestellung verfolgt, wie hoch-alexithyme Sprecher im Vergleich zu niedrig-alexithymen spontan Sätze intonieren, deren Inhalt emotional bzw. neutral ist (Durchgang 1). Außer-dem sollte die Frage beantwortet werden, wie die Probanden die Aufforderung umsetzen, die darge-botenen Sätze besonders emotional zu intonieren (entweder allgemein „emotional“ (Durchgang 2) oder mit einer bestimmten, vorgegebenen Emotion (Durchgang 3)). Können Hoch-Alexithyme emoti-onale Prosodie weniger gut „imitieren“ als Niedrig-Alexithyme oder vielleicht sogar besser?
Um diesen Fragen nachzugehen, unterteilte sich die zweite Studie in drei Durchgänge: Im ersten Durchgang wurden die Probanden gebeten, die Sätze vorzulesen, ohne eine weitere Instruktion zu erhalten. Sie wurden lediglich aufgefordert, die Sätze unverzüglich nach Erblicken vorzulesen. Im zweiten Durchgang lautete die Aufforderung, besonders emotional zu sprechen. Im dritten Durch-gang wurde oberhalb des schriftlich dargebotenen Satzes die zum Satzinhalt passende Emotion ab-gebildet, die die Probanden prosodisch wiedergeben sollten. Die Instruktionen wurden somit von Durchgang 1 zu Durchgang 3 hin immer expliziter.
Aus methodischen Gründen war es wichtig, das frei produzierte Sprachmaterial aus Studie 1 durch kontrolliert produziertes Sprachmaterial zu ergänzen. In der zweiten Studie habe ich außerdem be-wusst experimentelle Bedingungen eingehalten, die ein qualitativ hochwertiges Audiomaterial er-möglichen.
Die dritte Studie beschäftigte sich mit der Rezeption von Prosodie. Den Probanden wurden Sätze auditiv dargeboten, die mit emotionaler bzw. neutraler Prosodie gesprochen worden sind. Semantik und Prosodie waren dabei stets kongruent. Per Fragebogen wurden die Teilnehmer aufgefordert, auf einer Skala von 1 bis 5 zu beurteilen, wie angenehm oder unangenehm sie die Sätze empfunden ha-ben; wie sehr sie die Sätze erregt haben und schließlich wurden sie gebeten, die Sätze einer ihnen vorgegebenen emotionalen Kategorie bzw. der Kategorie „neutral“ zuzuordnen. Alle Sätze wurden auch in einer pseudosprachlichen Version dargeboten; außerdem wurde die Hälfte der Stimulussätze von einer Männerstimme, die andere Hälfte von einer Frauenstimme gesprochen.
In der dritten Studie ging es um die Frage, wie Hoch-Alexithyme emotionale Prosodie wahrnehmen und wie gut sie Prosodie als Informationsquelle für die Kategorisierung nutzen können.
Um einen kurzen Überblick zu gewinnen, werden die wichtigsten und deutlichsten Befunde an dieser Stelle zusammengefasst und kurz interpretiert. Dabei wird sich auf solche Befunde konzentriert, die sich wie ein roter Faden durch die drei Studien gezogen haben. Die Ergebnisse im Einzelnen werden im Buch ausführlich besprochen.
Beide Studien zur Prosodieproduktion (Studie 1 und Studie 2) ergaben, dass der prosodische Parame-ter Intensität sich zwischen den beiden Sprechergruppen deutlich unterscheidet, d. h. Hoch-Alexithyme sprechen signifikant leiser als Kontrollpersonen. (Eine detailliertere Ergebnisdarstellung über die Haupteffekte hinweg sowie weitere Interpretationsmöglichkeiten der Befunde erfolgen innerhalb des Ergebnisteils der Dissertation.) Dies entspricht der These, dass Hoch-Alexithyme das Sprechen über emotionale Themen (ihre persönlichen emotionalen Erlebnisse sowie vorgegebene emotionale Sätze) als weniger berührend empfinden als Kontrollpersonen.
Unter Bezugnahme auf Modelle zur Prosodieproduktion (ausgeführt in Kapitel 2.2.6.1) und den Ein-fluss, den Emotionen auf diesen Enkodierungsprozess haben, impliziert dieser Hauptbefund, dass bereits sehr frühe und grundlegende Prozesse innerhalb der Emotionsverarbeitung, welche nur bis zu einem gewissen Grad kognitiv reguliert sind und ansonsten weitgehend unabhängig sind, bei Hoch-Alexithymen verändert sind.
Die Tatsache, dass von den drei untersuchten prosodischen Parametern nur einer (Intensität) rele-vante Ergebnisse brachte, macht deutlich, dass der Parameter Intensität in zukünftigen Prosodieun-tersuchungen genauer betrachtet werden muss.
Die dritte Studie ergab keine Gruppenunterschiede hinsichtlich der gestellten Kategorisierungsaufga-be: Hoch-Alexithyme konnten die Stimulussätze ebenso gut in vorgegebene emotionale Kategorien einordnen wie Niedrig-Alexithyme. Jedoch zeigten sich bei den Ratings Ergebnisse, welche nur als statistische Tendenz gewertet werden können, da ihr p-Wert knapp über der Signifikanzschwelle liegt. Kontrollpersonen empfanden die dargebotenen Sätze als angenehmer als hoch-alexithyme Teilnehmer und waren gleichzeitig stärker erregt von den Stimuli. Diese stärkere Erregung zeigte sich allerdings nur bei den Sätzen, die inhaltlich und/oder prosodisch emotional gefärbt waren – bei den neutralen Sätzen war der Gruppenunterschied hinsichtlich des Arousal nicht signifikant.
Interessanterweise war hinsichtlich der Pleasantness kein Interaktionseffekt zu erkennen – Hoch-Alexithyme empfanden also neutrale Sätze als ebenso wenig angenehm wie emotionale (positiv so-wie negativ) Sätze. Dies entspricht einer Interpretation, die auf Basis von neurophysiologischen Be-funden bei Hoch-Alexithymen, welche ebenfalls prosodischen Stimuli ausgesetzt waren, getroffen worden ist: Möglicherweise empfinden hoch-alexithyme Personen die menschliche Stimme im All-gemeinen, ob sie nun emotional gefärbt ist oder nicht, als weniger angenehm bzw. reagieren weni-ger stark darauf. Diese Erklärung zielt darauf ab, dass es sich bei Alexithymie um ein allgemeineres, zwischenmenschliches Defizit handelt, welches nicht unbedingt auf Emotionen beschränkt ist.
Innerhalb der Alexithymieforschung kursieren unterschiedliche erklärende Hypothesen – am häufig-sten werden die so genannte Stresshypothese und die Entkopplungshypothese diskutiert. Die vorlie-genden Daten konnten keine der beiden Hypothesen stützen. Diese Arbeit ist jedoch nicht explizit auf die Testung dieser beiden Hypothesen zugeschnitten gewesen. Dennoch – wenn eine Entkopp-lung zwischen subjektivem Erregungsempfinden und unbewusster Emotionalität ein spezifisches Alexithymiecharakteristikum wäre, hätte sich das in der vorliegenden Arbeit durch ein Ausein-anderklaffen zwischen Prosodieproduktions- und Ratingdaten zeigen können. Da jedoch sowohl die prosodischen Daten aus Studie 1 und 2 als auch die Ergebnisse der Fragebögen aus Studie 3 eine Gedämpftheit bzw. eingeschränkte Emotionalität belegen, sprechen die vorliegenden Daten eher gegen die Entkopplungshypothese.
Bei der Stresshypothese hingegen wird davon ausgegangen, dass vor allem so genannte high-Arousal-Emotionen Schwierigkeiten für Hoch-Alexithyme darstellen. In dieser Arbeit konnten aller-dings nur Unterschiede zwischen emotionalen und neutralen Stimuli gefunden werden – nicht aber hatten spezifische einzelne Emotionen oder Emotionsgruppen (negativ vs. positiv) einen messbaren Einfluss. Insofern sprechen die hier gewonnenen Ergebnisse eher gegen die Stresshypothese.
Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit lautete jedoch vereinfacht: Fühlen hoch-alexithyme Menschen „anders“ oder „weniger“ als niedrig-alexithyme Menschen oder fühlen sie „gleich“, können ihre Gefühle nur nicht gleichermaßen ausdrücken bzw. symbolisieren?
Da ich Prosodie als einen Zugang zur Emotionalität der Sprecher betrachte, sprechen die gewonne-nen Befunde für eine allgemeine Gedämpftheit im emotionalen Erleben bei Hoch-Alexithymen. Be-zogen auf die Subtypen entspricht dieser Befund dem Erscheinungsbild des ersten Subtypen (Schwie-rigkeiten auf kognitiver sowie affektiver Verarbeitungsebene), der umgangssprachlich auch „Robo-ter“ genannt wird.
Um die soeben genannte zentrale Frage endgültig und abschließend beantworten zu können, bedarf es weiterer Studien.
In den vorliegenden Daten führte eine Differenzierung in die kognitive und die affektive Komponente von Alexithymie (anhand der BVAQ- (Bermond-Vorst-Alexithymia-Questionnaire) Werte der Proban-den) nicht zu einer Veränderung der Ergebnisse. In zukünftigen Studien wäre es wichtig, dieses Er-gebnis weiter zu überprüfen. Idealerweise würden dafür neue Testungsverfahren entwickelt werden – Fragebögen, die – so wie der BVAQ – beide Verarbeitungsebenen, die kognitive sowie die affektive, mit einbeziehen. Erstrebenswert wäre zudem ein Screeningtool, das nicht (nur) auf Selbstauskunft beruht, sondern darüber hinaus auch andere Informationsquellen verwendet um ein Bild zeichnen zu können, das der Komplexität des Alexithymiekonstrukts gerecht wird.
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