Kunst und innerhalb dieser die Architektur ist Ausdruck der zeitlichen Gegebenheiten. Diese waren 1945 nach der mentalen und physischen Hinterlassenschaft des Naziregimes desaströs, Stuttgart - die Heimatstadt des Architekten Rolf Gutbrod (1910 - 1999) - war völlig untergegangen. Wie sollte der Wiederaufbau geschehen? Als Anknüpfung an die erste Stuttgarter Bauschule vor 1933, als Anpassung an den „internationalen Stil“ als Re-Import des Bauhausstils? Ein kleines Gebäude - die Milchbar auf dem Stuttgarter Höhenpark Killesberg 1950, die einer Bauzeitung als sonderbar bezeichnet wird, um sie in der Folge als Befreiung zu loben - steht am Anfang der individualisierten Baukunst des Architekten Rolf Gutbrod. Yehudi Menuhin - wer könnte besser ein Werk einer verwandten Kunstgattung bewerten als er? - findet für das Konzerthaus Liederhalle 1956 die folgenden Worte: Nachdem ich nun schon zum zweiten Male in Ihrer neuen Liederhalle konzertiert habe, schreibe ich Ihnen, um Ihnen zu diesem Gebäude Glück zu wünschen. Der Raum ist akustisch hervorragend. Dabei hat seine geniale Asymmetrie für den Künstler etwas geradezu Befreiendes. In ihm scheint die mechanistische Perfektion, die unsere Kultur so bedroht, überwunden zu sein. Die freie Bewegtheit des Raumes steht in einem direkten Zusammenhang mit der freien Bewegtheit der Kunst der Musik. In einem solchen Raum ist es leicht, neue und alte Musik schöpferisch nachzuschaffen. Dass gerade in Deutschland, dem der Ruf der Reglementierung auch im Geistigen noch immer anhaftet, ein solches Gebäude an so wichtiger Stelle entstand, freut mich tief. Christoph Hackelsberger schrieb Mitte der 1980er Jahre über dieses Gebäude: Die äußere Erscheinung befremdete in ihrer Neuartigkeit nicht nur die Traditionalisten, sondern auch die Anhänger der klassischen Moderne. So entstand mitten in der Orientierungsphase der deutschen Architektur ein autochthones, organisches Baukunstwerk. In dieser Studie wird am Beispiel exemplarischer Bauwerke das Autochthone des Werks des Architekten, das so erfrischend vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Kubenarchitektur wirkt, dargestellt.